Der Pulverdampf des deutschen Wahlkampfes hat sich verzogen, die Ergebnisse liegen vor, und siehe da: Es gibt wesentlich mehr Sieger als Verlierer. Als klare Sieger dürfen sich die Grünen unter ihrem Frontmann Joschka Fischer, dem beliebtesten Politiker der Bundesrepublik, fühlen. Sie konnten sich als drittstärkste politische Kraft etablieren, fuhren das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte ein und retteten dem angeschlagenen Bundeskanzler Gerhard Schröder für vier weitere Jahre den sonnigen Platz an der Macht. Deshalb darf sich im Windschatten der Grünen auch Schröder als ein kleiner Sieger fühlen. Der Kanzler entging der Blamage, als erster deutscher Regierungschef nach nur einer einzigen Amtszeit abgewählt zu werden. Und bei der SPD fiel dem Wähler dank Schröder und grüner Dynamik offenbar nicht auf, dass sich die Partei seit Jahren in einem Zustand befindet, der einem Wachkoma nahe kommt. Erstmals gibt es nach der Helmut-Kohl-Abwahl also somit eine strukturelle Mehrheit für Rot-Grün, mag sie noch so klein sein. „Mehrheit ist Mehrheit“, sagte Schröder nach der Wahlnacht trotzig und nicht ganz zu Unrecht. Konrad Adenauer, die bürgerliche Ikone, wurde mit einer Stimme Mehrheit, noch dazu seiner eigenen, zum Kanzler gewählt und absolvierte eine der erfolgreichsten Amtszeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Auch Helmut Kohl regierte lange Zeit nur mit vier Abgeordneten Vorsprung. Edmund Stoiber wiederum fuhr für einen Bayern bundesweit ein mehr als respektables Ergebnis ein und triumphierte in seiner Heimat sogar fulminant: Die CSU erreichte in Bayern das beste Wahlergebnis seit 1949. Stoiber, der von einem „strategischen Sieg“ spricht, verharrt nun praktisch als eiserne Kanzlerreserve in Wartestellung und hofft, dass das rot-grüne Bündnis unter Reformdruck und eigener Entscheidungsschwäche zerbröselt. Die Verlierer stehen ebenfalls fest: An erster Stelle kommen die extremistischen Rechts- und Linksparteien wie NDP, KPD, Republikaner und auch die irrlichternde Truppe des Hamburger Richters Ronald Barnabas Schill. Ganz ohne Krawall verschwanden diese Truppen vorerst wieder einmal in der Versenkung, niemand will sie, niemand braucht sie - so kann und soll es bleiben. Dass die deutschen Wähler auf Hetz- und Hasspropaganda nicht mehr reagieren, musste auch die FDP schmerzvoll zur Kenntnis nehmen. Jürgen Möllemann, der sich mit antisemitischen Ausfällen wie auch mit fortgesetzten Fallschirmsprüngen zu profilieren suchte, kostete den Liberalen mindestens zwei Prozentpunkte. Die von der Spaßmannschaft FDP angepeilten 18 Prozent waren sowieso illusorisch. Möllemann, ein beratungsresistenter Großsprecher, kostete damit auch seinem Koalitionspartner in spe, der Union, die Kanzlermehrheit. Stoibers Dank ist den Liberalen somit gewiss und wird fürchterlich sein. Für Gerhard Schröder wird das Regieren künftig nicht einfacher. Nichts geht mehr als bisher allein entscheidungsbefugte rote Lichtfigur: Schröder muss wegen der knappen Mehrheiten stärker auf das Parlament, den wahren Wahlsieger, Rücksicht nehmen. Eine Hand voll sich verweigernder roter Hinterbänkler können dem eigenen Kanzler nun Niederlagen zufügen, die Opposition wird dazu gar nicht mehr gebraucht. Diese erstarkte Volksvertretung ist aber auch ein Zeichen dafür, dass sich die Entwicklung in Deutschland hin zu Demokratie und Zivilgesellschaft auf dem richtigen Weg befindet. Schließlich wird es auch der Bundestag sein müssen, der die außenpolitischen Scherben des Wahlkampfes entsorgt: Schröder selbst wird auf freundliche Töne aus Washington lange warten können. Aus der Sackgasse, in die sich der Kanzler mit seiner US-kritischen Politik manövriert hat, wird ihn das Parlament herausführen müssen, Schröder allein wird dazu kaum fähig sein. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.9.2002)