Endmoränen" ist ein eigentümlicher Titel für ein Buch ohne Berge. Endmoränen sind das Geröll, das ein Gletscher seinerzeit eiskalt vor sich hergeschoben hat, eine Art Land gewordener Naturschutt. Hier, im neuen Roman von Monika Maron, wird es zum Bild einer quasi erdgeschichtlichen Befindlichkeit - irgendwo in der nordöstlichen Pampa der ehemaligen DDR, wo sich sinnlos Stadtflüchtige ansiedeln. Die Endmoräne bezeichnet auch die biografische Zwischenbilanz der Ossi-Generation Ex, après la lettre natürlich: "Wir alle hatten plötzlich das Gefühl, daß unser richtiges Leben erst beginnt. Und jetzt, ein paar Jahre später, hat mich die Ahnung, eher die Furcht befallen, es könnte schon wieder vorbei sein mit dem eigentlichen Leben, weil es zu spät angefangen hat, weil wir gar nicht mehr dran sind mit dem richtigen Leben, sondern das für uns bald diese öde Restzeit beginnt, zwanzig oder dreißig Jahre."Das alles klingt auf den ersten Blick wehleidiger, als es ist. Denn was am Buch vor allem überzeugt, ist sein unprätentiöser Ton. Als Icherzählerin firmiert Johanna, auf der falschen Seite der 50, wie es scheint. Früher hat sie Biografien und Begleittexte für literarische Schallplatteneditionen geschrieben, "um Botschaften in ihnen zu verstecken". Jetzt arbeitet sie an einer Lebensdarstellung von Wilhelmine Enke, der "einzigen preußischen Mätresse von Rang"; einer Berliner Pompadour, die im 18. Jh. mit einer Sekte (den Rosenkreuzern) um die Gunst des Königs Friedrich Wilhelm II. und um ihr Leben buhlen musste. Mit dem Rücken zu ihrer Biografin Johanna treibt deren Gatte Achim noch immer seinen staatlich subventionierten Philologendienst am Götzen Kleist. Aus diesem Daneben einer Ehe zieht sich Johanna ins Ferienhaus nach Basekow, auf besagte Endmoräne zurück. Beide Eheleute haben verabsäumt, je etwas wirklich anderes zu tun. Hier kommt das unerwartete Ende der DDR als unheiliges Wunder für ostdeutsche Bildungsbürger zu Wort. Das Berauschende des Zusammenbruchs "aller gewohnten Lebenseinrichtungen" weicht dem mangelnden Aufbruch, dem Vakuum: "Im ersten Jahr nach dem Wunder konnte, wer die Zeichen der Zeit wirklich erkannt hatte und nicht lange zögerte, sein bisheriges Leben schließen wie ein Buch", räsoniert die Erzählerin. "Ich hätte alle Festlegungen aufheben und mein Leben neu erfinden dürfen." "Hätte" - aber: Johanna hat nicht. Doch die Schuld dafür wird nicht der Weltpolitik angelastet. Die Protagonisten hätten auch ihre Lebensentwürfe erschöpft, wären sie akademische Häuslbauer im Marchfeld, und das macht das Buch globaler, als es der (ost)deutsche Rahmen vermuten ließe. Keine peinlichen DDR-Abrechnungen, die an den "Zapfen" verflossener Mathe-Stunden erinnern, sondern eher ruhige Kontemplation. Es ist ein bedeutendes Sommerende (oder vielleicht ein Nachsommer?) für Johanna, die flugängstliche Malerin Karoline, den Wissenschaftslektor Christian, die kratzbürstige Bäuerin Friedel und die lebenskluge Journalistin Elli, die vor der Mauer in eine Westberliner Zeitschrift floh. An diesem Pampa-Idyll à la Tschechow ändert lediglich der pampige Macho-Russe Igor ein wenig, der eine lakonische, aber nicht unutopische Beischlafszene ins Leben der beginnenden Ich-Matrone bringt. In diesem nachdenklichen Text wird kaum ein Satz verschenkt - abgesehen von einer längeren Quatsch-Passage in der Mitte des Buches - in einer einfachen, aber präzisen Prosa, abgehoben von ostdeutscher Unheilschwangerkeit und Gender-Schamaninnentum. Nicht umsonst steht die Autorin Maron, Jahrgang 1941, spätestens seit Animal Triste für eine lesbare und lesenswerte Post-DDR-Literatur. So ist es auch kein Wunder, dass sich neben der Gräfin Enke-Lichtenau und Kubins Abenteuerroman Die andere Seite auch Christa Wolf intertextuell in das Buch eingeschlichen hat, als Huldigung und Schmähung zugleich: Elli und Johanna machen sich auf die Suche nach dem schlechtesten Satz in Geteilter Himmel (warum eigentlich nicht in Wolfs Sommerstück?). Ein solcher Satz wäre der Maron freilich nicht passiert. "Ein wunderlicher Anfang", denkt ihre Protagonistin am Ende. (Clemens Ruthner/DER STANDARD; Printausgabe, 21.09.2002)