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London droht Charmeverlust: Die legendären Doppeldecker sollen neuen, einstöckigen Bussen weichen.

Foto: Archiv
Gentlemen, die ihm hinterherhasten und sich scheinbar locker auf die obere Plattform schwingen, sieht man nur noch in alten Filmen. In der Londoner Innenstadt quälen sich heutzutage auch die Busse mit kaum 22 Stundenkilometern durch den Stau. Aber Spaß macht es trotzdem noch, das offene Deck eines "Route-masters" zu erklimmen. Wenn es wirklich so kommt, wie es in den EU-Papieren steht, wird es mit dem Spaß bald vorbei sein. Die antiquierten Doppeldecker sollen ausrangiert werden, weil sie gegen eine Richtlinie über die Zugänglichkeit Personen befördernder Kraftfahrzeuge verstoßen. Mit klaren Worten: Sie sind nicht behindertengerecht. Kein Rollstuhlfahrer schafft es auf die Plattform. Auslaufmodell Der Routemaster, von Liebhabern RM genannt, ist ganz klar ein Auslaufmodell. Exakt 2876 Exemplare hat man seit der Einführung dieser Busse 1954 gebaut, heute sind noch knapp 600 unterwegs. "Kann doch nicht wahr sein, der RM gehört zu London wie die rote Telefonzelle und das schwarze Taxi", wettert Phil Wilson vom Verein der Route-master-Freunde. "Die modernen Busse, diese Kästen, die sehen doch aus wie Briketts." Die Fans lieben die sanften Kurven des altmodischen Gefährts, vor allem aber dessen Charme. Die letzte Bank auf dem Oberdeck ist ungeschriebenen Regeln folgend für schmusende Liebespaare reserviert: "lover's seat". Beliebte Schaffner Der Labour-Abgeordnete Steve Pound, der selbst einmal Fahrkarten lochte, schwört auf den Busschaffner als Institution, und viele Londoner stimmen ihm zu. Beim Einsteigen geht es schneller, weil der Fahrer nicht selber kassieren muss. Kinder fahren siche-rer zur Schule, weil jemand aufpasst im Bus. Und für einen trockenen Witz sind die Männer mit den Ticketmaschinen "Gibson Mark 4" vorm Bauch jederzeit gut. Aber genau das wird dem Oldtimer nun zusätzlich zum Verhängnis. Chauffeur und Schaffner, das Duo ist den Busbetreibern zu teuer. Etliche Routemaster sind bereits auf dem Schrottplatz gelandet, lange bevor die Eurokraten ihr Machtwort sprachen. Und dann ist da noch Ken Livingstone. Londons Bürger-meister hat Busse bestellt, wie sie jenseits des Ärmelkanals üblich sind. Busse, die sich in der Mitte biegen und somit leichter um die Ecke kommen als handgeschmiedete Empire-Ware. Die sollen den Doppeldecker ablösen. Ausgerechnet Livingstone. Mit dem Versprechen, den alten Roten zu retten, ist der "Rote Ken" vor zwei Jahren ins Rathaus eingezogen. Jetzt will er von all dem nichts mehr wissen; was ihm die Freunde der bejahrten Karossen sehr übel nehmen. Sie klammern sich an das Prinzip Hoffnung. Totgesagte, trösten sie sich, leben bekanntlich länger. (DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.9.2002)