The Boggs
We Are The Boggs We Are
(Zomba)

Foto: Arena/Zomba
Jason Friedman und The Boggs definieren auf ihrem erstaunlichen Debüt "We Are The Boggs We Are" den Punk ihrer Heimatstadt New York einmal ganz anders. Wo die benachbarten Strokes eher von Punk als Modeerscheinung und fixem musikalischen Muster aus den späten 70er-Jahren ausgehen, definiert Friedman Punk richtigerweise als reine Haltung - die große Verweigerungshaltung, der große Hau-drauf-und-Schluß, die Tatsache, dass das morgendliche Kriechen aus dem Bett schon an sich eine Tragödie ist, vor allem aber so richtig schlimm wird, wenn man tagsüber obendrein kein Geld und schon gar keinen Kater zu verbrennen hat, dieser gestreckte Mittelfinger gegenüber der Welt ist so alt wie die Tatsache, dass in den Appalachen seit Generationen nicht nur gern Schnaps schwarz gebrannt und geschwisterliche Liebe betrieben, sondern auch ein White Trash-Gegreine gegen Himmel erhoben wird, dass der Kuh die Milch im Euter stockt. The Boggs haben sich nicht ohne Grund nach dem großen Dock Boggs benannt. Boggs, das 1898 in Virginia geborene, Klischee gewordene zehnte Kind einer bitterarmen weißen Taglöhnerfamilie, schuftete schon mit 12 Jahren als Minenarbeiter. Er sattelte aber bald auf Wirtshausmusikant und von der Polizei an Leib und Leben bedrohter Schwarzbrenner um, bevor ihn seine Frau nach einigen Jahren als Profimusiker zwecks Seriosität und vor allem regelmäßigen Einkommens wieder in die Minen zwang. Dort verschwand Boggs bis zu seinem kurzen Comeback in der Anfang der 60er-Jahre erwachenden jungen US-Folkszene um Harry Smith, Pete Seeger und vor allem auch Bob Dylan im wahrsten Wortsinn in der Versenkung, er nahm aber bis zu seinem Tod 1971 noch einige Platten auf, heute allesamt Sammlerstücke. Boggs historisches Verdienst besteht nicht nur in der Revolutionierung des Banjospiels. Anstatt die Saiten brutal und stumpfsinnig mit ganzen Akkorden zu schrubben, übertrug er in den 20er-Jahren lieber die durchaus anarchistisch gedeutete Gitarren-Fingerpicking-Technik des schwarzen Country-Blues auf das wegen seinem blechernen und resonanzlosen Klang vielfach als Teufelsgerät empfundene Banjo. Wenn man so will: Bluegrass aus der Hölle. Auch inhaltlich wurde hier Neuland betreten. Zu den traditionellen, fatalistischen Grein- und Jammer- und Ich-habe-meine-Frau-erschlagen- ich-fühle-mich-so-einsam- Balladen der alten Hinterwäldler-Schule gesellten sich bei Boggs durchaus auch als realistisch zu deutende Alltagsbetrachtungen, die Musik nicht länger als Weltflucht und Feierabendunterhaltung, sondern durchaus als sozialen Kommentar betrachteten. Zumindest ansatzweise, siehe Songs wie Danville Girl , Pretty Polly oder Country Blues . Zurück von Dock Boggs zu The Boggs. Der Ahnherr und musikalische Pate aus Virginia wurde den frechen Dreikäsehochen aus Brooklyn sehr wahrscheinlich über die Wiederveröffentlichungen von dessen frühen Aufnahmen und der mustergültigen Neuauflage von Harry Smiths legendärer American Folk Anthology bekannt. Inhaltlich greifen Jason Friedman und seine Kumpels an Banjo, Akkordeon, Mandoline, Waschbrett und Bratlgeige jedenfalls in die Vollen und lassen aber auch kein einziges Blues- und Folk-Klischee aus, vor dem selbst die artverwandten britisch-irischen Pogues um Shane MacGowan aus Gründen europäischer Restwürde noch zurückgeschreckt wären. Die archaische Syntax des Appalachen-Folk und der Mangel an handwerklichen Fähigkeiten auf den Instrumenten, den Codes des Punk sozusagen als antike Blaupause dienend, wird von The Boggs in so genannten Eigenkompositionen wie der Armer-Mann-kriegt-keinen-hoch-Ballade Emily, O Emily oder dem gezinkten Delta-Blues von Poor Audrey James derart perfekt nachgestellt und ungemein rührend und beseelt, verschlampt und verdreckt knapp neben den richtigen Noten und Takten gespielt, dass man kurz den Verdacht hegt, die Boggs könnten tatsächlich spielen. Weil wir aber an die Idee des Punk ganz, ganz fest glauben, sagen wir jetzt einfach: The Boggs können es nicht besser. Sie spielen an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und schicken der Welt einen dicken feuchten Babyfurz entgegen. Die Punkplatte des Jahres 2002. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.9.2002)