Die Erleuchtung kam Peter Fraenkel am Strand von Southampton. Hinter ihm, in der Stadt, pulsierte das Leben. Das Meer dagegen, selbst hier, vor Südenglands geschäftigstem Hafen, war ziemlich leer. "Dieses Potenzial, dachte ich mir, muss doch besser zu nutzen sein."Jetzt steuert Fraenkel auf eine Premiere zu, auf das erste Gezeitenkraftwerk der Welt, das wie ein Unterwasser-Windrad betrieben wird. "Sea-flow" soll im Herbst vor dem südwestenglischen Badeort Lynmouth im Bristolkanal in Betrieb gehen. Ein britisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt: Die "Hausherren" bauten die Technik, Wissenschafter der Universität Kassel testeten das Modell am Computer. Die Anlage bringt eine Leistung von 300 Kilowatt und dient vorerst nur Versuchszwecken; die kommerzielle Nutzung soll erst in vier bis fünf Jahren beginnen. Doch für Fraenkel, den technischen Direktor der Firma "Marine Current Turbines", ist es das Signal für eine Revolution. Wo sonst, wenn nicht auf den Britischen Inseln, soll man die Kraft der Gezeiten ausnutzen. Noch vor kurzem ließ sich das Phänomen besonders eindrucksvoll in Cardiff studieren. Bei zurückweichendem Wasser verwandelte sich die Stadtbucht der walisischen Metropole in eine bizarre Schlammlandschaft, bis jemand auf die Idee kam, sie mit einem Damm vom offenen Meer abzugrenzen. Im Bristol Channel liegt der Tidenhub bei gut neun Metern. Auf Pfeilern montiert Warum also nicht einfach eine Windmühle ins Wasser stellen? Klingt komisch, aber mit diesem Bild erklären die Ingenieure ihren Geistesblitz. Ein Pfeiler reicht bis auf den Meeresgrund. Im Wasser ist ein dreiblättriger Propeller an dem Träger befestigt, genauso wie der Rotor einer Windkraftanlage. Der Wechsel von Ebbe und Flut treibt die Flügel an; Strom wird erzeugt. Gezeitenkraftwerke gibt es schon lange: Das älteste und größte nahe dem bretonischen St. Malo ist seit 1966 in Betrieb. Doch "Seaflow" basiert auf einem anderen Prinzip, insofern ist es eine Weltneuheit. Hier treibt nicht die Höhendifferenz zwischen Ebbe und Flut die Turbinen an wie in St. Malo, hier wird die durch die Gezeiten verursachte Strömung direkt genutzt. Vor Lynmouth, nicht weit von Cardiff am Bristolkanal gelegen, meint es die Geografie gut mit dem Experiment. Wo sich die See verengt, wo ein Trichter-Effekt entsteht, lohnt es sich. Das Wasser muss mindestens zwei Meter pro Sekunde schnell fließen. Es sollte, so lautet die Faustregel, nicht flacher als 20 und nicht tiefer als 35 Meter sein. An der schottischen Westküste, vor Nordirland, Wales und Südwestengland schlummert ein enormes Potenzial. Leicht berechenbar Aus der Strömung Strom zu gewinnen werde eine Erfolgsstory wie die Windenergie, prophezeien die geistigen Väter. Vielleicht noch populärer, schließlich seien die Gezeiten nicht so launisch wie der Wind. "Sie können sie auf hundert Jahre voraus berechnen", sagt Fraenkel, "solange der Mond pünktlich für Ebbe und Flut sorgt". Außerdem gebe es keine Hurrikans unter Wasser. Man brauche die Technik nicht am Extremfall eines Jahrhundertsturms auszurichten und spare viel Geld. Die Aussicht der Experten: Eines Tages werde Großbritannien ein Fünftel seines Energiebedarfs durch Anlagen wie "Seaflow" decken.(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14./15. 9. 2002)