Das Programm von "Experiment 626" ist eindeutig, es lautet: Zerstörung. Deshalb soll das kleine blaue Wesen mit sechs Armen, Flügelohren und scharfen Zähnen möglichst schnell in die Verbannung geschickt werden. Der Rat, der über die Ordnung im Universum wacht, hat für derart archaische Wesen nämlich keinen Platz. Doch Kreaturen wie diese entkommen stets und suchen sich ihr eigenes Exil - meist einen fernen blauen Planeten.

Schon das im All angesiedelte Vorspiel des Disney-Animationsfilms Lilo & Stitch ist mit erfrischend anarchischen Gags angereichert. Und auch auf der Insel Hawaii, dem Ort des weiteren Geschehens, herrscht anfangs, gemessen an den beliebten Heile-Welt-Fantasien des Konzerns, keineswegs idyllische Eintracht:

Das Mädchen Lilo, eine störrische Einzelgängerin, die sich mit Elvis Presley-Nummern tröstet, lebt mit ihrer Schwester Nani zusammen. Ihre Beziehung liegt jedoch im Argen, und das nicht nur wegen Geldnot: Ein Sozialarbeiter - mehr ein man in black - droht die beiden voneinander zu trennen. Die Welten kollidieren, als Lilo ein eigenes Haustier bekommt: Sie tauft das hundeähnliche Wesen, das auf Hawaii bruch- und im Tierheim gelandet ist, Stitch. Die Liaison zwischen dem Außerirdischen und der irdischen Außenseiterin erzählt der Film als überraschend grelle, dynamische und vor allem humorvolle Geschichte der Missverständnisse.

Gezähmtes Monster

Lilo versucht Stitch zu domestizieren, der hegt jedoch nur einen Plan - gleich früherer monströser Erdenbesucher will er vor allem die nächste Großstadt in Schutt und Asche legen. Das liebliche Hawaii muss ihm daher missfallen, und so fügt er sich dem Mädchenduo zunächst nur widerwillig.

Lilo & Stitch, geschrieben und inszeniert von Chris Sanders und Dean Deblois, ist nach Mulan (1998) der zweite Animationsfilm, der in der Florida-Dependance der Disney-Studios hergestellt wurde. Obgleich Stitch ein wenig einem Pokemon ähnelt, wirkt das Zeichentrickabenteuer visuell geradezu klassisch.

Nicht nur sind die Hintergründe mit Aquarellfarben gemalt, was an weit zurückliegende Disney-Erfolge wie Pinocchio (1940) oder Dumbo (1941) erinnert, auch die hervorgehobenen Nummern - unter anderem ein Surftrip und eine Flugzeugverfolgung - setzen mehr auf atmosphärische Reize als auf optische Extravaganz.

Die Insel Hawaii ist eine überschaubare Welt, in der auch die Figuren in einem kulturellen Milieu verankert sind, das ethnische Zuschreibungen nicht ausspart. Dass zuletzt freilich doch noch das Hohelied auf die Familie angestimmt werden muss, wenn Stitchs subversive Reflexe allmählich der Sehnsucht nach einem eigenen Heim weichen, ist auch bei dieser Disney-Produktion unvermeidlich.

Aber zumindest ist es ein denkbar unkonventionelles Familienmodell, das hier affirmiert wird: Ein Monster lebt fortan bei zwei Waisen. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.7.2002)