Zerstörung in Khan Younis im Gazastreifen.
Zerstörung in Khan Younis mehr als sieben Monate nach Kriegsbeginn im Gazastreifen. "Es ist genug", sagt Friedensaktivistin Reem Hajajreh.
AFP/-

"Wir haben überhaupt keine andere Chance", sagt Angela Scharf auf die Frage, wie sie nach mehr als sieben Monaten Krieg im Gazastreifen immer noch an Frieden zwischen Israelis und Palästinensern glauben kann. "Unsere Hoffnung ist, dass in dieser katastrophalen Situation vielleicht doch ein Ausgangspunkt für eine Änderung sein kann", sagt die Aktivistin der israelischen Graswurzelbewegung Women Wage Peace im Interview mit dem STANDARD über den 7. Oktober 2023. Das Weitermachen begründet Scharf auch mit dem "Vermächtnis" ihrer Freundin Vivian Silver, Mitbegründerin von Women Wage Peace und eines der bekanntesten Gesichter der israelischen Friedensbewegung, die beim Terrorangriff der Hamas getötet wurde. "Wir stehen alle noch unter Schock, wir sind noch immer traumatisiert. Aber es muss weitergehen", zeigt sich Scharf überzeugt.

Reem Hajajreh sieht es ähnlich. "Wir sind Hoffnung", sagt sie über die Aktivistinnen von Women Wage Peace und Women of the Sun, die palästinensische Schwesterorganisation, die 2021 gegründet wurde. Schon vor dem 7. Oktober demonstrierten sie unermüdlich für den Frieden, arbeiteten an einer gemeinsamen Zukunftsvision. Vergangene Woche waren sie auf Einladung des Jüdischen Museums Wien zu Gast in Wien. Bei einer Wiener Vorlesung, die die Wienbibliothek im Rathaus mit dem Jüdischen Museum Wien in Kooperation mit dem Salzburg Global Seminar veranstaltete, haben sie ihre Arbeit vorgestellt.

Keine Gewinner

Am 7. Oktober sei für Scharf klar gewesen, "dass man natürlich etwas machen muss", eine militärische Reaktion notwendig sei. Sie stellt aber klar: "Krieg allein kann nicht zu Frieden führen." Diplomatische, politische Verhandlungen müssten damit einhergehen.

Angela Scharf ist seit Jahren für den Frieden in Nahost aktiv.
Paul Pibernig

Hajajreh sieht das kritischer: "Im Krieg gibt es keine Gewinner, nur Verlierer", sagt die Palästinenserin. Sie spricht die "schmerzhaften" Verluste im Gazakrieg an, die "beängstigend" hohen Opferzahlen und massiven Schäden. Im Gazastreifen werde so vorgegangen, als ob die gesamte Bevölkerung die Hamas repräsentiere, kritisiert Hajajreh. "Aber die Hamas ist nicht die ganze palästinensische Bevölkerung, nicht die Bevölkerung von Gaza." Zivilisten hätten mit der Sache nichts zu tun.

"Unsere Rolle ist, die Welt, die Leute aufzuwecken", sagt Hajajreh. "Es ist genug."

"Ob ein Staat, zwei, zehn oder hundert. ist nicht wesentlich. Das Wichtigste am Schluss ist, dass wir damit aufhören, uns zu töten" – Aktivistin Reem Hajajreh.

Die Aktivistin sieht einen großen Teil der Welt aufgeteilt in zwei Teile, einer aufseiten der Palästinenser und einer aufseiten der Israelis. "Und sie haben vergessen, dass diese beiden sich versöhnen und zusammenleben müssen. Wie lange sollen wir noch gegeneinander kämpfen?" Hajajreh fordert, nicht die eine oder die andere Seite zu unterstützen, sondern "die Menschen, die für den Frieden arbeiten".

Hoffnungslosigkeit

Und Hajajreh fordert, Frieden statt Krieg zu finanzieren. "Wie viel wird jährlich für Krieg ausgegeben? Allein für den Krieg in Gaza: nicht Millionen, Milliarden. Was wäre, wenn wir das für den Frieden ausgeben würden?"

Junge Palästinenserinnen und Palästinenser seien hoffnungslos, würden etwa nicht an ein Studium, an Arbeit oder die Zukunft denken. "Die einzige Frage, die sie sich stellen ist: Wie werde ich sterben?" Auch Hajajreh hat in Bezug auf ihren 19-jährigen Sohn ähnliche Gedanken, ständig habe sie Angst, ihn zu verlieren. "Er darf nicht wegen eines Konflikts sterben, mit dem weder er noch ich etwas zu tun haben. Nur weil er in diesem Land geboren ist?" Hajajreh spricht von einem Ungleichgewicht zwischen Israelis und Palästinensern. "Die Macht ist nicht gleich verteilt, wir haben nicht die Möglichkeiten, mitzuhalten", sagt sie. "Wir sind arm, leben in Camps, uns fehlt es an so viel."

Reem Hajajreh: "Unsere Rolle ist, die Welt, die Leute aufzuwecken", sagt Hajajreh. "Es ist genug."
Paul Pibernig

Auch zwischen den beiden Frauen zeigt sich die Diskrepanz. "Allein um das Land verlassen zu können, muss ich so viel in Kauf nehmen", kritisiert Hajajreh. Scharf reiste aus Tel Aviv viereinhalb Stunden direkt nach Wien. Hajajreh musste aus Bethlehem erst nach Jordanien und dann von dort nach Österreich: Ihre Reise dauerte zehn Stunden länger. "Solche Dinge führen bei uns Palästinensern zur Frage: 'Wieso nicht ich?'", sagt Hajajreh. "Wieso lebe ich in einem Camp, Angela in einem Haus in Tel Aviv? Ich habe doch auch das Recht, dasselbe zu haben, egal wo."

Gemeinsame Sprache

Trotz aller Unterschiede und Ungerechtigkeiten kooperieren ihre Organisationen seit Jahren. "Wir arbeiten miteinander, wir reden miteinander, das war unser Ziel von Anfang an", sagt Hajajreh. "Zwischen uns gibt es Verständnis statt Kämpfen gegeneinander." Scharf beschreibt die gemeinsame Sprache, die sie gefunden hätten: "Ein drittes Narrativ, nicht das israelische, nicht das palästinensische, sondern eine Sprache, die nach vorn schaut, um eine sichere, bessere Zukunft für unsere Kinder und Enkelkinder zu haben", betont sie. Dabei gehe es nicht darum, "wer hat wem etwas angetan, und wer ist schuld, sondern: Wie kommen wir von hier weiter".

Eines ihrer Ziele: Eine Generation vorbereiten, "die an die Idee von Frieden glaubt und offen ist für einen Dialog zwischen den Palästinensern und Israelis", sagt Hajajreh. Palästinenser und Israelis würden derzeit nicht an Frieden glauben. Nach dem 7. Oktober sei das wenige Vertrauen, das zwischen den beiden Seiten bestanden habe, verloren gegangen. Derzeit gebe es eine "innere Mauer des Hasses", die Dialog verhindere. Dialog sei aber "die einzige Lösung", ist Hajajreh überzeugt.

Egal wie viele Staaten

Bei der Gründung von Women Wage Peace im Jahr 2014 habe es zwei Ziele gegeben, erklärt Scharf: die Regierungen dazu bringen, eine Lösung zu verhandeln und Frauen an den Verhandlungstisch zu bringen. Welche Lösung gefunden wird, ist weder Scharf noch Hajajreh wichtig. "Jede Lösung, die mit Verhandlungen von beiden Seiten akzeptiert wird, ist für uns akzeptabel", sagt Scharf.

Ob am Ende "ein Staat, zwei, zehn oder hundert" stehen, ist auch für Reem Hajajreh nicht wesentlich. "Das Wichtigste am Schluss ist, dass wir damit aufhören, uns zu töten" und dass am Ende ein "fairer" Frieden stehe. "Wir haben als Palästinenser das Recht zu leben, in einem Staat einmal die Luft der Freiheit atmen zu können. Unsere Kinder haben das Recht, in Sicherheit zu leben."

"Jede Lösung, die mit Verhandlungen von beiden Seiten akzeptiert wird, ist für uns akzeptabel" – Aktivistin Angela Scharf

Sowohl Hajajreh als auch Scharf fordern, dass Frauen an Friedensgesprächen beteiligt sein müssten. "Wir stellen 50 Prozent der Bevölkerung, und wir sind absolut nicht vertreten, weder in Palästina noch in Israel", kritisiert Scharf. Im israelischen Kriegskabinett gebe es nicht eine Frau, in der Koalition fast keine. Es mache einen Unterschied, wenn Frauen sich an Friedensverhandlungen beteiligen, sind beide überzeugt. Der Frieden sei dann andauernder, nachhaltiger. Auch weil Frauen eine andere Sicht und Sprache einbringen würden, sagt Scharf.

"Wenn man als einziges Werkzeug einen Hammer hat, dann schauen alle Lösungen wie Nägel aus", zitiert Scharf ihre verstorbene Freundin Vivian Silver. "Wenn man im Kriegskabinett nur Generäle hat, ist es klar, dass sie nur eine militärische Lösung finden." (Noura Maan, 17.5.2024)