Das Massaker der Hamas an 1200 Israelis lag keine zwei Wochen zurück, als Joe Biden im vergangenen Oktober für einen siebenstündigen Besuch nach Tel Aviv flog. Es war ein Zeichen der uneingeschränkten Unterstützung Israels durch seinen wichtigsten Verbündeten. "Es muss Gerechtigkeit geübt werden", sagte der US-Präsident. Und er mahnte: "Lassen Sie sich nicht von der Wut beherrschen!"

Nach langem Zögern hat sich Joe Biden zu einer deutlichen Warnung an Israel entschlossen.
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In den folgenden sieben Monaten des Gazakriegs hat Biden immer wieder versucht, den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zur Rücksicht auf Zivilisten und die Orientierung auf eine Zweistaatenlösung zu drängen. Ein ums andere Mal ließ er sich stillschweigend von Netanjahu düpieren, während gleichzeitig der innenpolitische Druck junger Wählerinnen und Wähler und linker Parteifreundinnen und -freunde auf ihn stieg.

Doch nun scheint für Biden die Grenze erreicht zu sein: Ohne diplomatische Umschweife erklärte er, dass die USA keine Waffen für einen Großangriff auf Rafah im Süden des Gazastreifens liefern werden.

"Es ist einfach falsch"

"Es ist einfach falsch", kommentierte Biden in einem Interview mit dem Fernsehsender CNN am Mittwochabend (Ortszeit) israelische Pläne für eine umfassende Invasion in der mit mehr als einer Million palästinensischen Flüchtlingen überfüllten Stadt. Man werde Israel weiter mit Waffen zur Verteidigung versorgen, sagte Biden. Aber: "Ich habe 'Bibi' (Premier Benjamin Netanjahu, Anm.) klar gesagt, dass sie keine Unterstützung bekommen, wenn sie in die Stadt gehen."

Auf Nachfrage erläuterte Biden, er sehe diese "rote Linie" durch das Vorrücken der israelischen Armee zum Grenzübergang Rafah noch nicht überschritten: "Was sie gemacht haben, war direkt an der Grenze." Sollte es aber zu einem Großangriff auf das überfüllte Bevölkerungszentrum kommen, werde er Waffen, "die bei solchen Einsätzen in der Vergangenheit benutzt wurden", zurückhalten. Dazu gehörten nicht nur Bomben, sondern auch Artilleriemunition, sagte Biden.

Die Ankündigung, die bei der israelischen Regierung und den US-Republikanern auf scharfe Kritik stieß, signalisiert die wachsende Frustration des Präsidenten mit der Netanjahu-Regierung, die offensichtlich andere Ziele verfolgt: Während Washington die humanitäre Katastrophe eindämmen will und über alle Kanäle Druck für einen Waffenstillstand macht, setzt Jerusalem auf die Zerstörung der Hamas mit bedingungsloser Härte.

Demonstrierende an der California State University in Los Angeles fordern: "Hände weg von Rafah!"
AFP/ETIENNE LAURENT

Während in der vergangenen Woche fieberhaft über eine Feuerpause verhandelt wurde, ließ Netanjahu die Rafah-Invasion vorbereiten. Am Montag ließ er Flugblätter abwerfen, mit denen 100.000 Flüchtlinge aufgefordert wurden, die Stadt zu verlassen – ohne einen geeigneten Rückzugsort. Am Dienstag besetzte das israelische Militär dann den Grenzübergang.

Washington wollte nach US-Medienberichten sein Missfallen über die drohende weitere Eskalation des Krieges, in dem bereits 34.000 Palästinenser und Palästinenserinnen – auch viele Kinder – getötet wurden, zunächst vertraulich signalisieren. Man ließ die Israelis wissen, dass man die anstehende Lieferung von insgesamt 3500 schweren Bomben zurückhalte. Doch die Israelis machten die Information öffentlich, was zu Empörung bei den US-Republikanern führte. In einem gemeinsamen Brief forderten Mike Johnson, der Sprecher des Repräsentantenhauses, und Mitch McConnell, der Minderheitsführer im Senat, die Revision der Entscheidung.

Lob und wütende Kritik

Stattdessen macht Biden mit seiner Drohung, im Falle eines Rafah-Einmarschs auch keine Artilleriemunition mehr zu liefern, seine wachsende Verärgerung über die israelische Regierung nun öffentlich. "Ich habe Bibi damals gesagt: Mach nicht denselben Fehler wie die Vereinigten Staaten (nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001, Anm.)", erinnerte er in dem CNN-Interview nun noch einmal an seine Mahnung vom vergangenen Oktober. Unausgesprochen schwang der Vorwurf mit, Netanjahu habe diesen Ratschlag missachtet.

Ob Bidens Erklärung seinen Kritikern in den USA ausreicht, die ihm Beihilfe zu einem "Völkermord" vorwerfen, muss sich erst zeigen. Pramila Jayapal, Sprecherin des linken Demokraten-Flügels im Repräsentantenhaus, lobte jedenfalls in einer Erklärung ausdrücklich den "wichtigen Wendepunkt in dem Krieg". Hingegen warf der Republikaner Johnson dem Präsidenten einen "Verrat" am Verbündeten Israel vor.

"Biden stellt sich auf die Seite der Terroristen", behauptete auch Ex-Präsident Donald Trump. Vor seinem Gerichtstermin am Donnerstag polterte der Mann, der die Teilnehmer des antisemitischen Neonazi-Aufmarschs von Charlottesville 2017 als "sehr gute Leute" bezeichnet hatte: "Falls irgendeine Person jüdischen Glaubens Biden wählt, soll sie sich schämen." (Karl Doemens aus Washington, 9.5.2024)