Sie hält sich hartnäckig: die Erzählung, nach der Russland kurz nach der Vollinvasion der Ukraine im Frühjahr 2022 zu einer Art Friedensdeal bereit gewesen sei, der nur vom "kriegsgeilen Westen" und dessen "Marionetten" in Kiew torpediert worden sei. Das Argument kommt vom politisch linken wie vom rechten Rand. Und die Geschichte kommt auch von Wladimir Putin selbst. Aber stimmt sie? Wie nah war man dem schnellen Frieden wirklich?

In Wahrheit ist die Geschichte deutlich komplexer, als es die populäre Erzählung vermuten ließe. Direkte Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew gab es aber tatsächlich auch nach Kriegsbeginn noch – und es stimmt auch, dass sich beide Seiten in manchen Punkten nähergekommen sind als bisher oft angenommen.

Gespräche bis in Details

Dass das Thema zuletzt wieder an Fahrt aufgenommen hat, hat auch mit einer aufsehenerregenden Veröffentlichung in der Zeitschrift Foreign Affairs zu tun. Verfasst haben sie die beiden Politikwissenschafter Samuel Charap (Rand) und Sergey Radchenko (Johns Hopkins University). Sie beziehen sich dabei auf öffentlich verfügbare – aber auf Russisch und Ukrainisch verfasste – Quellen aus Medien, aber auch auf bisher nicht veröffentlichte Kommuniqués und Interviews mit Teilnehmern der Verhandlungen. Das Bild, das entsteht, legt nahe, dass in den Gesprächen durchaus an manchen Stellen schon Detailfragen behandelt wurden. Nicht gesagt ist damit aber, dass sie auch mit dem ernsten Willen geführt wurden, sie wirklich abzuschließen – oder gar, dass dies gelungen wäre.

Treffen vier Tage nach Kriegsbeginn im belarussischen Ljachawitschy.
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Schon bisher bekannt waren die chronologischen Fakten über die Gespräche. Sie begannen am 28. Februar 2022 – vier Tage nach der russischen Vollinvasion. Es war jener Zeitpunkt, als man laut dem Moskauer Vorabplan Kiew eigentlich schon erobert haben wollte, tatsächlich aber vor den Toren der Stadt festhing. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko, in dessen Land die russischen Truppen zuvor den Sturm auf die ukrainische Hauptstadt vorbereitet hatten, stellte sein Staatsgebiet für Vermittlungen zur Verfügung. Einem ersten Treffen, rund 50 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt, folgten Anfang März zwei weitere nahe der polnischen Grenze. Am 10. März trafen einander die Außenminister Dmytro Kuleba und Sergej Lawrow im türkischen Antalya. Ende März trafen auch die Delegationen erneut aufeinander, diesmal in Istanbul. Davor und danach wurde im kleineren Kreis via Zoom verhandelt – die letzten Kommuniqués, die Charap und Radchenko zitieren, stammen vom 15. April. Dann waren die Gespräche, zumindest in ihrer halboffiziellen Form, vorbei.

Ungefragte Garantiemächte

Anfangs lagen die Positionen noch radikal auseinander. Beim ersten Treffen dürften die russischen Verhandler ihren ukrainischen Gegenparts im Grunde den Wunsch nach einer Kapitulation Kiews vorgetragen haben. Als immer klarer wurde, dass ein baldiger Sieg Moskaus militärisch nicht erreichbar war, verschoben sich auch in den Verhandlungen die Positionen. Die Teilnehmer aus der Ukra­ine verlangten etwa einen Waffenstillstand und die Einrichtung humanitärer Korridore.

In späteren Runden kristallisierten sich die Forderungen Moskaus nach einer militärischen Neutralität, Allianzfreiheit und weitgehenden Entwaffnung Kiews heraus. Ebenso jene der Ukraine nach glaubhaften Sicherheitsgarantien. Offen blieben dabei Fragen der Ausgestaltung – und wie diese zu erfüllen wären, ohne dass der Westen am Ende erst recht in einen Krieg hineingezogen würde.

Kiew argumentierte, sowohl Russland als auch die USA und andere westliche Staaten müssten in einer Übereinkunft die Sicherheit der Ukraine garantieren – und zwar stärker und glaubhafter, als sie dies im 1994 beschlossenen Budapester Memorandum taten, das die Unversehrtheit des ukrainischen Territoriums im Tausch für die aus der Sowjetunion geerbten Atomwaffen vorsah. Denn diese Zusage Moskaus war für Kiew bekanntlich 2022 das Papier nicht wert, auf dem sie stand.

Bei der Verhandlungsrunde im belarussischen Brest am 7. März 2022 forderte Russland noch de facto eine ukrainische Kapitulation. Später kam man sich näher – wie nahe, bleibt unsicher.
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In Istanbul gab es laut Charap und Radchenko eine mögliche Lösung. In einem provisorischen Kommuniqué werden alle Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China) sowie Kanada, Deutschland, Israel, Italien, Polen und die Türkei als mögliche Garantiemächte erwähnt. Kiew würde der Weg in Militärallianzen versperrt, jener in die EU aber ermöglicht. Charap und Radchenko melden hier Zweifel an: Würde Putin, der aus angeblicher Sorge vor einer Nato-Erweiterung an die russischen Grenzen überhaupt erst in der Ukra­ine eingefallen sein soll, nun einem De-facto-Verteidigungspakt für Kiew zustimmen?

Russland hätte auf diese Weise ja verbindlich festgehalten, dass bei einer neuen Verletzung der ukrainischen Souveränität die anderen Vertragspartner intervenieren dürften. Denkbar wäre dies nur für den Fall, dass der Kreml sich massiv unter Druck gesetzt fühlte. Oder belegt die russische Bereitschaft zur Zustimmung am Ende doch, dass man die Verhandlungen nicht in guter Absicht geführt hat?

In späteren Drafts wurde die Idee von Moskau dahingehend abgeschwächt, dass jeder Vertragspartner, also auch Moskau, in diesem Fall zustimmen müsste. Das wäre wiederum für Kiew skurril, weil die Sicherheit der Ukraine nur dann garantiert wäre, wenn Russland – also der Angreifer – ihre Verteidigung zusagt.

Deutliche Differenzen blieben

Ähnliche Mehrdeutigkeiten gibt es an weiteren Punkten: So geht aus dem Papier vom 12. April hervor, dass Kiew sich weigerte, Forderungen nach einem Verbot von Nazismus, Neo-Nazismus, Faschismus, aber vor allem auch dem sehr allgemein formulierten Punkt "aggressiver Nationalismus" nachzukommen. Waren die Punkte von Russland als Sollbruchstelle im Vertrag vorgesehen, um bei einem Scheitern Kiew die Schuld geben zu können? Oder als rhetorische Auswege, die Putin einen gesichtswahrenden Sieg beim Kriegsziel "Entnazifizierung" der Ukraine ermöglichen sollten?

Genauso rätselhaft bleiben die Antworten auf viele territoriale Fragen. Das Schicksal der russisch besetzten Gebiete sollte bei einem späteren Gipfel zwischen Putin und Selenskyj besiegelt werden; jenes der schon 2014 annektierten Krim in einem friedlichen Prozess, der über 15 Jahre dauern sollte.

Warum sollte Putin plötzlich den Themenkomplex Krim noch einmal öffnen, nachdem er niemals auch nur andeutete, darüber jemals wieder verhandeln zu wollen? Weit auseinander lag man zudem bei der künftigen Größe des ukrainischen Militärs: Kiew wollte mindestens 250.000 Mann, Russland maximal 85.000. Ähnlich weit auseinander gingen Vorstellungen bei der Zahl der Panzer und der Reichweite von Raketen. Ex-Nato-General Erhard Bühler spricht in seiner Analyse der Bedingungen von einem "Diktatfrieden". Angesichts solcher Differenzen und der Tatsache, dass die Grenzziehung noch nicht einmal Teil der Vorverhandlungen war, wirken die Einigungschancen im Nachgang äußerst gering.

Beim Treffen in Antalya waren die zu überbrückenden Gräben zwischen Russlands Außenminister Sergej Lawrow (ganz li.) und seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba (ganz re.) nicht nur Corona-bedingt groß.
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Und wenn es sie doch gegeben hätte: Waren die Verhandler überhaupt berechtigt, tiefgehende Zugeständnisse zu machen? Auf ukra­inischer Seite war das Team hochkarätig besetzt. Die russische Verhandlungsseite wurde hingegen von Wladimir Medinski geleitet, Putins Redenschreiber und Berater in historisch-kulturellen Dingen, der für Putins neo-imperialistische Ideen oft den geschichtsverfälschenden Unterbau lieferte. Dass ausgerechnet er, der Putins expansionistische Abenteuer stets bestärkte, nun die Annexion der Krim aufweichen, die Ukraine in Richtung EU entlassen und eine völkerrechtlich garantierte Intervention des Westens im Falle einer neuerlichen Verletzung der ukrainischen Souveränität festschreiben würde, wirkt fast absurd.

"Der Deal, der nie war"

Inwieweit Medinski und alle weiteren Verhandler Moskaus tatsächlich mit einem Mandat von Putin ausgestattet waren, glaubhafte Zugeständnisse zu machen, ist schwer zu sagen. In einem vielbeachteten X-Thread von Daniel Szeligowski, Chef des Osteuropaprogrammes beim polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten, behauptet dieser, dass Russland von vornherein geblufft hätte. Putin sei nie zu signifikanten Zugeständnissen bereit gewesen, wollte die Ukraine "unterjochen", und daher habe "der Deal, den es nie gab", zu keiner Zeit eine Chance gehabt.

Zu solch deutlichen Worten greifen Charap und Radchenko nicht. Sie sehen in den an­gedeuteten Zugeständnissen gar Hoffnung für künftige Verhandlungen. Bei genauer Lektüre ihrer 32.000-Zeichen-Analyse tun sich aber Unmengen an Fallstricken für einen etwaigen Deal auf. Wer wann gestolpert wäre, bleibt offen. Denn Russlands Kriegsverbrechen in Butscha, Irpin etc. torpedierten den schnellen Frieden schließlich zusätzlich. Dass Selenskyj nach der erfolgreichen Verteidigung Kiews und den Zusagen des Westens, Hilfe zu leisten, plötzlich stärker an eine Befreiung der besetzten Gebiete glaubte, trug wohl auch dazu bei.

Was bleibt: Trotz der Verhandlungen gab es zu keiner Sekunde einen fertigen Deal, nur niedergeschriebene Annäherungsversuche in den kritischen Teilbereichen Neutralität und Sicherheitsgarantien, aber keine Bewegungen bei anderen riesigen Hürden. Dass der damalige britische Premier, der historisch versierte Boris Johnson, eiserner Verfechter der ukra­inischen Souveränität, Selenskyj zu Vorsicht bei etwaigen Zusagen Putins geraten habe, wie von Charap und Radchenko beschrieben, wäre nur logisch. Die Verhandlungen torpediert hätte er damit aber kaum. Denn die Entscheidung lag letzten Endes immer bei Kiew. Dass Putin das nun anders verkauft, passt in seine große Desinformationskampagne. (Manuel Escher, Fabian Sommavilla, 10.5.2024)