GASTBEITRAG: Tobias Glück

Eine Krankenschwester bereitet das Untersuchungszimmer vor
Geführt von Fachfremden oder von Fachleuten, die nicht führen können?
IMAGO/Sergei Anischenko

Bis 2030 werden 75.000 Pflegekräfte in Österreich fehlen, gleichzeitig denken bei den unter 30-Jährigen fast 30 Prozent darüber nach, den Beruf zu verlassen. 30 Prozent der Medizinabsolventen werden nicht als Ärztinnen oder Ärzte in Österreich tätig. Die Gründe sind vielfältig, vieles liegt an politischen Entscheidungen oder dem Fehlen dieser und auch an unserem gesellschaftlichen Umgang mit dem Gesundheitssystem. Aber nicht nur.

Diejenigen, die bleiben, berichten, dass es weniger die Arbeit mit den Patienten ist, die sie belastet, als strukturelle Missstände, überbordende Bürokratie, herausfordernde zwischenmenschliche Situationen im Team und die mangelnde Anerkennung und Unterstützung durch die Trägerorganisationen. Auch stellt sich mir manchmal die Frage: Weshalb gehen Menschen, die sich beruflich um andere kümmern und so anspruchsvolle Berufe haben, teils so gefühllos mit sich selbst und miteinander um? Hier spielt sicher auch der durch strukturelle Bedingungen erzeugte Stress eine wesentliche Rolle, aber nicht nur.

Führung via Excel

Eines der Probleme sehe ich darin, dass nicht selten Führungspositionen mit fachfremden Personen besetzt werden, die teils nur ein oberflächliches Verständnis der alltäglichen Abläufe und Herausforderungen haben, oder mit Fachexperten, denen die nötige Führungsexpertise fehlt. Die Arbeit am Menschen wird quantifiziert und in wirtschaftlich-politische Vorgaben zu pressen versucht.

Vor einigen Jahren habe ich mit einer Gruppe von Psychologinnen in einer Institution gearbeitet. Der Führungskraft – ein Quereinsteiger aus der Wirtschaft – gab die Geschäftsführung den Auftrag, die Patientenzahlen zu erhöhen. Es wurde Druck ausgeübt, statt das Team zu schützen, es wurden vollkommen unrealistische Ziele festgelegt und Einwände beiseitegewischt. Das Excel-Sheet der Führungskraft hatte recht, und die Psychologinnen wurden verantwortlich gemacht, dass es nicht funktionierte. Dass in dem Bereich Klienten nicht erscheinen oder kurzfristig absagen, Krisengespräche länger dauern können oder die Psychologinnen zwischen den Gesprächen Pausen brauchten, war nicht vermittelbar. Die Folgen waren Fluktuation, Burnout und Demotivation.

In einer anderen Krankenanstalt tätigte eine Führungsperson in einer Versammlung die Aussage, dass Teilzeitbeschäftigte faul seien und es das unter ihr nicht mehr geben werde. Im psychosozialen Bereich arbeiten großteils Frauen, warum in Teilzeit, ist klar. Aber von der Institutionsleitung gab es keinerlei Konsequenzen. Die Auswirkungen dieser Haltung auf die Motivation und Sicherheit der Mitarbeiter waren verheerend.

Umgang miteinander

Das Problem liegt aber nicht nur im Umgang zwischen den hierarchischen Ebenen, sondern auch darin, wie teilweise in den Teams miteinander umgegangen und gegeneinander gearbeitet wird. Jede Berufsgruppe bringt ihre eigene Sicht und Kompetenz in die Arbeit am Patienten ein, allerdings auch je nach Berufsgruppe unterschiedliche unbewusste Ziele, die konfliktär sein können. In Abteilungen, in denen die Atmosphäre stimmt und die Angestellten gerne arbeiten, wird dies als Ressource gesehen. Grenzen und Aufgaben zwischen den Berufsgruppen sind klar und von allen anerkannt. Unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen werden gleichberechtigt gehört.

In Abteilungen, in denen es Probleme gibt, werden diese Grenzen missachtet, anderen Berufsgruppen Kompetenzen abgesprochen oder deren Arbeit abgewertet. Immer wieder gibt es in Teams auch notorische Einzelkämpfer, die Aufopferung als Wettbewerb sehen und deren Währung die Anerkennung der Patienten ist, wobei es eigentlich nicht um das Patientenwohl geht. Sie setzen sich über Regeln hinweg, kritisieren Kolleginnen und wissen immer, was Patientinnen in allen Lebensbereichen brauchen. Wer Pausen braucht oder sich abgrenzt, wird als unkollegial dargestellt. Wenn eine andere Meinung zu einem Sachverhalt geäußert wird, fühlen sie sich persönlich angegriffen. Nicht selten schwingt auch ein Generationenkonflikt mit. Diese Personen höhlen die Sicherheit und das Vertrauen innerhalb der Teams aus, jedoch wird häufig viel zu lange zugesehen oder nichts gegen dieses Verhalten unternommen.

Versunken in Ohnmacht

Welche Möglichkeiten gäbe es, neben der besseren Bezahlung und anderen politischen Hebeln, um Personen für den medizinisch-psychosozialen Bereich zu begeistern und sie dort zu halten? Es beginnt damit, dass die Beschäftigten als Experten für ihre Arbeit und die damit verbundenen Herausforderungen gesehen werden. Zu häufig wird, auch nachdem man sie zu ihren Bedürfnissen befragt hat, über ihre Köpfe hinweg entschieden. Die daraus resultierende Hilflosigkeit gegenüber den Strukturen und die Unmöglichkeit, die eigene Arbeit zu bewältigen oder gar befriedigend zu erbringen, sind einer der Gründe für Burnout und Kündigungen.

Gleichzeitig müssten Gesundheits- und Selbstfürsorgeangebote so gestaltet werden, dass sie mit den Arbeitszeiten vereinbar sind bzw. in den Institutionen angeboten werden. Es gilt der Leitsatz, nur wer sich gut um sich kümmert, kann sich auch gut um andere kümmern. Bereits in der Ausbildung müsste mehr Wert auf zwischenmenschliche Kompetenzen wie den Umgang mit Unveränderbarkeit, Konfliktkompetenz und Kommunikation gelegt werden. Auch gibt es wissenschaftlich evaluierte Konzepte zur Intervision und kollegialem Feedback. Jedoch müssen Mitarbeiter in diesen Konzepten geschult und die persönlichen mentalen Voraussetzungen geschaffen werden. Eines der Stichworte lautet auch "psychologische Sicherheit" (Amy Edmondson). Es bedeutet, wie sicher sich Mitglieder eines Teams fühlen, um zwischenmenschliche Risiken einzugehen. Man darf Ideen einbringen, kritisieren und Entscheidungen hinterfragen. Konflikte werden konstruktiv ausgetragen. Fehler können passieren und haben keine negativen Konsequenzen wie Schuldzuweisungen oder Vergeltungsmaßnahmen, die das Selbstbild der Person beschädigen. Es ist klar, dass all diese Maßnahmen Zeit und Ressourcen binden, jedoch gibt es eigentlich schon lange keine Alternative mehr. (Tobias Glück, 8.5.2024)