Julian Hessenthaler
"Mir wurde viel Lebenszeit geraubt, das lässt sich nicht mit Geld kompensieren": Julian Hessenthaler über sein Verfahren und die Freiheitsstrafe.
APA/TOBIAS STEINMAURER

Wir treffen uns in einem Wiener Lokal am frühen Nachmittag im Frühling. Die Kellnerin ist so freundlich, die Musik ein bisschen leiser zu drehen, damit die Aufnahme klappt, auch wenn dieses Interview nicht fürs Radio bestimmt ist. Hessenthaler spricht konzentriert und gut verständlich, obwohl er ziemlich verkühlt ist. Ich frage ihn, ob er oft erkannt und angesprochen wird. Er meint, anfangs häufig. Bei diesem Gespräch bleiben wir unbehelligt.

STANDARD: Die maximale U-Haft-Länge in Europa beträgt zwölf Monate. Nur bei einem drohenden Strafmaß von mehr als fünf Jahren darf sie sogar 24 Monate betragen. Sie waren beinahe27 Monate in U-Haft. Wie konnte es dazu kommen?

Hessenthaler: Meine Auslieferungshaft aus Deutschland, die drei Monate überschritten hatte, wurde von den österreichischen Behörden nicht als U-Haft anerkannt.

STANDARD: Was ist so schlimm an der U-Haft?

Hessenthaler: Sie ist deutlich strenger als die reguläre Haft, man ist 23 Stunden am Tag eingeschlossen, kann keinen Sport machen oder einer Arbeit im Gefängnis nachgehen.

STANDARD: Können Sie den Tagesablauf in U-Haft beschreiben?

Hessenthaler: Man wird um 5.30 Uhr geweckt, Licht an ist um fünf Uhr morgens. Dann gibt es Frühstück. Mittagessen ist ab 11.30 Uhr, und um 14.30 Uhr ist der sogenannte Einschluss, ab da ist man in der Zelle eingesperrt. Das ist sehr, sehr lange, bis um 22 Uhr die Lichter ausgemacht werden.

STANDARD: Ist man die ganze Zeit allein?

Hessenthaler: Nein. In Berlin (wo Hessenthaler festgenommen wurde, Anm.) gab es vor allem Einzelzellen, aber in St. Pölten, wo ich die meiste Zeit abgesessen habe, gibt es auch Vierer-, Sechser- und Achterzellen. Wobei die Sechserzelle, in der ich unter anderem untergebracht war, knappe 21 Quadratmeter hatte, wir haben das ausgemessen. Und die Fenster sind so hoch angebracht, dass man stehend nicht hinaussehen kann.

STANDARD: Sie wurden zuerst aus Deutschland nach Wien überstellt?

Hessenthaler: Dann kam ich von der Rossauer Kaserne ins Landesgericht, wieder in eine Einzelzelle. Zuerst kam ich in eine Absonderungszelle, das Stockwerk, in dem die lag, war nicht ideal, die Stockchefin hatte einen H.-C.-Strache-Schal im Büro hängen.

STANDARD: Sie haben aufgrund von "Eigensicherungsmaßnahmen" insgesamt sieben Monate in Einzelhaft verbracht. Was ist das, und warum war das so?

Hessenthaler: Zu meiner "Sicherheit". Ich war mit Mördern im Stockwerk, u. a. mit dem Bierwirt und dem Mann, der in der Trafik in Wien seine Ex-Freundin angezündet hat. Ich habe mich aber bemüht, als Hausarbeiter arbeiten zu dürfen, da teilt man die Post aus, das Essen und Medikamente. Es ist besser, als allein und untätig zu sein. Besonders schlimm an der U-Haft ist auch, nicht zu wissen, wie lange es dauern wird. Diese Ungewissheit und dazu die permanente Hoffnung, dass es durch den öffentlichen Druck nicht zu dieser absurden Verurteilung kommen wird, was sich leider nicht bewahrheitet hat.

STANDARD: U-Haft darf nur unter gewissen Bedingungen ausgesprochen werden, das sind bestimmte Gründe wie Flucht-, Verdunkelungs- oder Tatbegehungsgefahr. Wie ging es Ihnen, als die ehemalige Familienministerin Sophie Karmasin nach einer Haftbeschwerde beim Oberlandesgericht Wien nach 26 Tagen aus der U-Haft entlassen wurde? Ihrem Haftentlassungsantrag wurde hingegen nicht stattgegeben, obwohl Sie die Zusage von Arbeit durch ein Unternehmen hatten.

Hessenthaler: Es ist bekannt, dass es in Österreich Gleiche und Gleichere gibt. Ich fand es eher überraschend, dass sie überhaupt in U-Haft kam. Ich habe keinerlei Vertrauen in die österreichische Justiz mehr. Ich werde jetzt etwas sagen, was Groll auf mich zieht: Nicht wenige Anwälte sagen, dass die Rechtsansichten des Oberlandesgerichts Wien primär als Kuriositäten hervorstechen. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wünsche niemandem eine U-Haft.

STANDARD: Die meisten von U-Haft Betroffenen sind keine Promis, im Gegenteil. Laut dem Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie sind europaweit besonders viele ausländische Beschuldigte in U-Haft, die oft der Landessprache nicht mächtig sind. Gerade in Österreich und Belgien liegt der Prozentsatz bei mehr als 50 Prozent. In Litauen bei nur sieben Prozent.

Hessenthaler: Da gibt es sicher regionale Unterschiede. Ich habe in St. Pölten bei Mithäftlingen erlebt, dass natürlich auch das Fehlen eines Wohnsitzes und der finanziellen Mittel bei einer möglichen Entlassung aus der U-Haft eine Rolle spielt. Es ist auch ein großer Unterschied, ob man sich einen Wahlverteidiger leisten kann oder auf einen Pflichtverteidiger zurückgreifen muss. Das sind manchmal Anwälte, die noch nie ein Strafverfahren geführt haben.

STANDARD: Dass Untersuchungsgefangene häufig unter schlechteren Haftbedingungen als verurteilte Häftlinge leiden, hat auch das European Committee for the Prevention of Torture mehrfach festgestellt und als paneuropäisches Problem deklariert. Sie selbst sind Ende Februar 2023 mit einer Fußfessel entlassen worden. Wie darf man sich das vorstellen?

Hessenthaler: Der Bewegungsspielraum ist erstaunlich eng, man wird getrackt und darf nur den Hin- und Rückweg zur und von der Arbeit zurücklegen. Dazu gibt es eine sogenannte Freibewegungsstunde, die aber tatsächlich auch im Winter unter freiem Himmel stattfinden muss. Da kann man sich also nicht ins Kaffeehaus setzen oder in ein Shoppingcenter gehen. Zum Einkaufen gibt es einmal in der Woche eine Möglichkeit.

STANDARD: Sie wurden zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Kokainhandels und Urkundenfälschung rechtskräftig verurteilt und haben Ihre Strafe abgesessen. Sie gehen nun durch die Instanzen und klagen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen die lange Verfahrensdauer, die Verletzung der Unschuldsvermutung und auf das Recht auf ein faires Verfahren. Warum?

Hessenthaler: Alle, die das Verfahren verfolgt haben, konnten sich selbst ein Bild machen: mit Zeugen, die erhebliche Geldzuwendungen erhielten und einander widersprachen, keine Sachbeweise usf. Mir ist das wichtig, weil alle Strafverteidiger, mit denen ich gesprochen habe, vor allem die deutschen, mir gesagt haben: Wir hätten nicht gedacht, dass ein solches Urteil in einem europäischen Staat möglich ist.

STANDARD: Mit einem Urteil in Straßburg ist erst in zwei bis vier Jahren zu rechnen, dort sind rund 60.000 Fälle anhängig. Schreckt Sie das nicht ab?

Hessenthaler: Ich kenne jemanden, dessen Beschwerde dort seit zehn Jahren behandelt wird (lacht). Aber die Fälle werden nicht chronologisch nach Eingang behandelt. Mir ist das aus Prinzip wichtig, auch wenn eine Entscheidung in meinem Fall nicht zu einer Aufhebung des österreichischen Urteils führt. Bestenfalls zu einer Neuverhandlung.

Tanja Paar
Tanja Paar schreibt Essays, Kurzprosa und Romane, zuletzt "Die zitternde Welt" (Haymon Verlag). In ihrem Drama "Neumeyer gegen die Republik", Posse in drei Akten mit einem gerichtlichen Nachspiel, geht es um die Bedeutung der Einhaltung der maximalen U-Haft-Länge in Europa.
Pamela Rußmann

STANDARD: Sie waren im September 2023 insolvent, die Schulden beliefen sich auf 207.000 Euro, laut Kreditschutzverband gibt es ein Schuldenregulierungsverfahren. Jemand hat ein Crowdfunding für Sie gestartet (gofundme.com / Gerechtigkeit für JH). Das Spendenziel von 10.000 Euro wurde bei weitem nicht erreicht, und der Eingang betrug nur 2704 Euro – eine Enttäuschung?

Hessenthaler: Ich habe das Crowdfunding nicht gestartet, also kann ich auch nicht enttäuscht sein. Ich kann mir meine Gedanken machen, warum für einen Bergbauern in einer Woche über 400.000 Euro gespendet werden. Aber ich freue mich und bin dankbar, dass diese Initiative gestartet wurde.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, wir werden in Österreich Kurz und Strache nicht hinter Gittern sehen. Wie sehen Sie das nach dem erstinstanzlichen Urteil gegen Kurz, das wegen Falschaussage acht Monate auf Bewährung beträgt und nicht rechtskräftig ist?

Hessenthaler: Genauso. Wir werden Kurz und Strache nicht hinter Gittern sehen. Selbst bei einer rechtskräftigen Verurteilung wird keiner von beiden eine Zelle von innen sehen. Also ich lasse mich gern überraschen, aber ich denke, bei einem Politiker wird das Urteil in Österreich unter zwölf Monaten bleiben, und damit geht man nicht ins Gefängnis. Ich muss betonen: Ich habe keinerlei Gefühlsregungen gegenüber Kurz oder Strache.

STANDARD: Sie machen trotzdem weiter?

Hessenthaler: Wenn man diese Art Aufwand getrieben hat, wäre man dumm, vor dem Ende zurückzuschrecken.

STANDARD: Die sogenannte Oligarchennichte wurde im September 2023 angeblich enttarnt und in manchen österreichischen Medien mit vollem Namen genannt, Fotos der Person wurden veröffentlicht (der Österreichische Presserat hat dieskürzlich kritisiert, Anm.). Was sagen Sie dazu?

Hessenthaler: Da wurden Persönlichkeitsrechte verletzt und Grenzen mutwillig überschritten. Mehr will ich dazu nicht sagen, ich habe keine Akteneinsicht mehr.

STANDARD: Es ist jetzt ein Jahr her, dass Sie ein freier Mann sind. Wie geht es Ihnen?

Hessenthaler: Es gibt immer noch Auswirkungen, die ich tagtäglich erlebe, zum Beispiel Schlafprobleme. Das war unmittelbar nach dem Gefängnis nicht so. Mir wurde viel Lebenszeit geraubt, das lässt sich nicht mit Geld kompensieren. Ich bin noch nicht zur Ruhe gekommen. (Tanja Paar, 28.4.2024)