Der Thwaites-Gletscher in der Westantarktis zählt zu den größten Eismassen der Erde. Er ist flächenmäßig etwa so groß wie der US-Bundesstaat Florida und gilt als Schlüsselfaktor für die zukünftigen Entwicklungen des globalen Meeresspiegels. Deshalb wurde ihm das Etikett "Weltuntergangs-Gletscher" (Doomsday Glacier) quasi an die Brust geheftet. Sein Abschmelzen allein (was freilich Jahrhunderte dauern würde) hätte einen zusätzlichen Meeresspiegelanstieg von geschätzten 70 Zentimetern zur Folge. Er ist bereits jetzt für etwa vier Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs verantwortlich – ein Betrag, der sich seit Mitte der 1990er-Jahre mehr als verdoppelt hat.

Thwaites-Gletscher
Der Thwaites-Gletscher mündet in die Amundsen-See und ist bereits jetzt für etwa vier Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs verantwortlich.
Foto: AP/David Vaughan

Beitrag zum Meeresanstieg

Doch das wäre gar nicht das größte Problem. Der Thwaites-Gletscher fungiert als Korken, der vorerst noch verhindert, dass der gesamte westantarktische Eisschild in Bewegung gerät. Kann er seine Barrierefunktion nicht mehr erfüllen und rutschen die dahinterliegenden Eismassen ins Meer, muss man mit einem Anstieg der Meeresoberfläche um mindestens drei Meter rechnen. Kein Wunder also, dass es Fachleute interessiert, wie es unter dem Thwaites-Gletscher aussieht, wie das Terrain seine Fließgeschwindigkeit und den Anstieg des Meeresspiegels beeinflussen könnte.

Warmes Ozeanwasser aus der Amundsen-See, in die der Thwaites-Gletscher mündet, zirkuliert unter dem schwimmenden Rand des Gletschers und lässt ihn von unten schmelzen. Durch dieses Schmelzen löst sich das Eis vom darunterliegenden Untergrund, es schwimmt auf, wodurch es schneller abfließt. Das Verständnis der Form und Merkmale des Meeresbodens, der sich unter dem Thwaites befindet, ist daher wichtig. Die beiden Faktoren beeinflussen, wie schnell sich der Gletscher zurückzieht und zum Anstieg des Meeresspiegels beiträgt.

Messungen am Thwaites-Gletscher: Während zweier Feldkampagnen (2022–2023 und 2023–2024) führte das Forschungsteam die erste großflächige seismische Erkundung eines Eisstroms überhaupt durch.
Foto: AWI/Olaf Eisen

Blick in den Untergrund

Die unter einer 800 bis 1.200 Meter dicken Eisschicht verborgenen Landschaften auf dem Festland hat nun ein deutsch-britisches Forschungsteam der International Thwaites Glacier Collaboration (ITGC) gleichsam ans Tageslicht gebracht. Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter nutzten seismische Verfahren, um erstmals das Bett unter dem abgelegenen Gletscher zu vermessen, und lieferten damit wichtige Ausblicke in die Zukunft des Thwaites-Gletschers. Ihre Ergebnisse hat die Gruppe diese Woche auf der Tagung der Europäischen Geowissenschaftlichen Union (EGU) in Wien vorgestellt.

"Das ist das erste Mal, dass wir ein so klares Bild von einem so großen Teil des Untergrundes bekommen", sagte Olaf Eisen, Glaziologe am Alfred-Wegener-Institut. "Dies hat große Auswirkungen auf die Modellierung der Eisflussdynamik und auf das Verständnis, wie viel der Thwaites-Gletscher zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen könnte, was sich auf die Küstengemeinden auf der ganzen Welt auswirken wird, insbesondere in der nördlichen Hemisphäre."

Berge, Ebenen und Seen

Die Messungen des Untergrunds zeigten eine abwechslungsreiche Landschaft: Relativ flache und glatte Regionen von einigen Kilometern Länge, in denen weiche Sedimente vorherrschen, wechseln sich ab mit Gegenden mit einer ausgeprägteren Topografie, in denen Unebenheiten mit dutzenden bis hunderten Metern Höhenunterschied und hartes Grundgestein das Fließen des Eises behindern. Außerdem fand das Team mehr als 100 Meter tiefe Seen.

Die seismischen Aufnahmen enthüllten in einigen Gebieten auch Muster innerhalb des Eises über dem Untergrund. Diese sogenannten englazialen Reflexionen wurden vor allem in Bereichen beobachtet, in denen der Untergrund rauer ist. Dies deutet darauf hin, dass sich das Eis über diesen rauen Teilen des Gesteins verformt und sich die Eiskristalle an den herrschenden Spannungen ausrichten. Das bedeutet, dass das Eis in einer Richtung viel weicher, in der anderen aber viel härter ist. Dies müssten Eisfließmodelle berücksichtigen, damit man das dynamische Verhalten des Gletschers genau darstellen kann, berichten die Forschenden auf der EGU.

European Geosciences Union

Neben diesen seismischen Aufnahmen sammelte ein US-Team auch hochauflösende Radardaten, die eine Karte des Untergrunds unter dem Eis liefern, vergleichbar mit Satellitenbildern der Erdoberfläche. Durch die Kombination beider Datensätze waren die Forschenden in der Lage, die dreidimensionale Ausdehnung einiger geomorphologischer Merkmale des Gletscherbetts zu definieren, die das Fließen des Gletschers beeinflussen, wie beispielweise mit Sedimenten gefüllte Becken und Tröge.

Vorhersagen

Diese bisher unbekannten Eigenschaften des Gletscherbetts gehören zu den wichtigsten Eingabedaten für Eisfließmodelle, die den zukünftigen Verlust des Eisschilds vorhersagen sollen. Zurzeit wird mit den Modellen versucht, die Eigenschaften des Gletscherbetts anhand von Satellitenbildern abzuschätzen, um die Oberflächengeschwindigkeit des Gletschers berechnen zu können.

Mit den neuen Erkenntnissen wird man in der Lage sein, mit den Modellen genauere Ergebnisse für die Art und Weise zu gewinnen, wie das Eis über die rauen und flachen, harten und weichen Abschnitte des Bettes fließt. Das verbessert das Verständnis dafür, wie der Thwaites-Gletscher auf einen wärmeren Ozean und ein schnelleres Abschmelzen an seiner Vorderseite reagieren wird. (tberg, red, 18.4.2024)