In den Wäldern des Alishan- Naturschutzgebiets ziehen die für Taiwan so typischen Nebelschwaden auf.
In den Wäldern des Alishan- Naturschutzgebiets ziehen die für Taiwan so typischen Nebelschwaden auf.
Anna Sawerthal

Auf Befehl zu meditieren ist gar nicht so leicht. Der Ort ist wie geschaffen dafür, keine Frage. Eine Holzbrücke im Zypressenwald, inmitten des Ali­shan-Naturschutzgebiets, am Fuße des höchsten Bergs von Taiwan. Die Brücke führt nicht etwa über einen Bach oder einen Fluss, sondern über Moos und Wald und Unterholz, umgeben von tausend Jahre alten Mammutbäumen. "Jetzt meditieren! Drei Minuten!", hatte Sophia Liu laut gerufen. In dem langen olivgrünen Trenchcoat hat die Taiwanesin mittleren Alters mehr etwas von einer Generalin als einer Wanderführerin – einer äußerst herzlichen jedoch.

Mit beiden Händen auf dem Holzgeländer der Brücke schließe ich die Augen. Die Luft aktiv ein- und ausatmen, den frischen Geruch der Zypressen riechen, im Hier und Jetzt im Wald sein.

Umgeben ist Taiwan von Wassermassen: im Osten der riesige Pazifik, im Westen die nicht sehr breite, aber tiefe Meeresstraße von Taiwan.
Umgeben ist Taiwan von Wassermassen: im Osten der riesige Pazifik, im Westen die nicht sehr breite, aber tiefe Meeresstraße von Taiwan.
Anna Sawerthal

Doch statt Ruhe kommt der Geschmack von Quallensalat in den Sinn. Und das Tosen der Brandung frühmorgens in Hualien. Oder der Geruch des Ozeans in den schwarzsandigen Buchten am Tofu Cape. Die nassen Rettungs­westen. Die tiefe Taroko-Schlucht. Das Außengelände des Taipei 101, in schwindligen Höhen über der Stadt.

Entspannt angehen

Die Eindrücke der letzten Tage schießen unkontrolliert ein. Verstohlen blinzele ich nach links und rechts. Die Baumriesen sind immer noch da – und einige Kollegen, die das Gleiche probieren wie ich. Anstatt den Wald zu spüren, muss ich lachen und fühle mich alles andere als im Zen. Es tut mir leid, Sophia, aber auf Druck geht hier gar nichts.

Muss es auch nicht. Und das ist wohl die erste Lektion, die die Insel in Ostasien ihren Gästen erteilt: Auf Taiwan darf man es entspannt angehen. Es stimmt, Taiwan steht für Innovation, Präzision und Hightech. Und erst vor kurzem hat ein starkes Erdbeben die Insel erschüttert. Taiwan wurde dabei aber vor allem dafür gelobt, wie gut man darauf vorbereitet war. So wird hier insgesamt abseits von Mikrochips und "Made in Taiwan" die Gemütlichkeit großgeschrieben. So entspannt wie in der Hauptstadt Taipeh kommt man wohl in keiner anderen asiatischen Großstadt herum. Das Reisen auf Taiwan lässt sich kurz und prägnant beschreiben: Es ist einfach.

Holzpfade machen es leicht, die üppige Vegetation Taiwans zu Fuß zu erkunden.
Holzpfade machen es leicht, die üppige Vegetation Taiwans zu Fuß zu erkunden.
Anna Sawerthal

Vollkommen zu Unrecht galt Taiwan daher lange bestenfalls als Transferhub, als Tor nach Ostasien und darüber hinaus. Das war schon früher, vor hunderten Jahren so, als Seefahrer vielleicht für ein paar Wochen in den Häfen anlegten. Und das ist heute nicht viel anders: Auf dem Weg nach Japan, China, Indonesien oder Aus­tralien legt man in Taiwan eventuell einen kurzen Zwischenstopp ein. Aber dass man nach Taiwan fliegt, um Taiwans willen?

Insel der Vielfältigkeit

In Europa ist die Insel als Reisedestination weitgehend unbekannt. Dabei ist Taiwan so viel mehr als Tech, China-Konflikt und Halbleiter. Wer sich auf die Insel einlässt, der erkennt schnell ihre Vielfältigkeit. Und das ist die zweite Lektion der subtropischen Destination: Taiwan kann alles sein. Da sind die modernen Großstädte entlang der dichtbesiedelten Westküste; da sind aber auch die zerklüfteten, felsigen Steilküsten im Osten.

Als erstes Land, das in Asien die Homo-Ehe zugelassen hat, gilt Taipeh als so etwas wie die LGBTIQ-Hauptstadt Asiens. Abseits der pulsierenden Metropolen ist Taiwan mit seinen tausenden Tempeln ein Ort der Besinnung. Im Westen verbindet ein hypermoderner Hochgeschwindigkeitszug die Städte und Chipfabriken. Im Osten und in den Bergen tuckern alte Schmalspurbahnen durch die Wälder, in Reminiszenz an die japanische Kolonialzeit. Burgruinen im europäischen Stil erinnern wiederum daran, dass hier auch einmal die Niederländer und die Portugiesen das Sagen hatten.

Stolz ragt im Herzen der Hauptstadt der Taipei 101 in den Himmel.
Stolz ragt im Herzen der Hauptstadt der Taipei 101 in den Himmel.
EPA/DANIEL CENG

Und immer hat sich die Insel über die Jahrhunderte ihre ganz eigene Identität erhalten. Stolz ragt im Herzen der Hauptstadt der Taipei 101 in den Himmel. Mit seinen 508 Metern war er bis 2009 das höchste Gebäude der Welt. Das Hochhaus hat mittlerweile seine Pforten bis ganz hin­auf geöffnet: Auf dem Skywalk kann man, gesichert im Klettergeschirr, einmal um die Spitze des "Bambus" gehen. Unten wuselt das Großstadtleben, sogar Hochhäuser sind von hier oben winzig klein. Und an den Rändern der Stadt übernehmen bald die grünen Flächen. Am Horizont Richtung Süden sieht man an klaren Tagen bis zu den hohen Bergen.

Denn das ist die dritte Lektion: Bei allen urbanen Hotspots – Taiwan ist ein Paradies für Outdoor- und Aktivfans. Da ist einerseits eine laufbegeisterte Community. Nicht weniger als neun Marathons finden hier jährlich statt, einer der größten ist der Eva-Air-Marathon im Herbst in Taipeh. Doch abseits der Großstädte offenbart sich Taiwan von einer ganz anderen Seite.

Dreitausender als Volkssport

Die Insel ist nicht einmal so groß wie die Niederlande, und doch gibt es hier über 250 Dreitausender. Der höchste Berg, der Jadeberg, ist mit 3.952 Metern sogar höher als der Großglockner. Es gilt hier als Volkssport, zumindest hundert der vielen Dreitausender selbst zu besteigen.

Umgeben ist Taiwan von Wassermassen: im Osten der riesige Pazifik, im Westen die nicht sehr breite, aber tiefe Meeresstraße von Taiwan. Wenn im Winter die Winde die See besonders rau machen, pilgert die Windsurf-Elite dieser Welt nach Taiwan. Doch auch ohne Segel nimmt einen der Ozean ein Stück weit mit.

Es gilt hier als Volkssport, zumindest hundert der vielen Dreitausender selbst zu besteigen.
Es gilt hier als Volkssport, zumindest hundert der vielen Dreitausender selbst zu besteigen.
iStock/Getty Images

Anna Kruczyńska setzt das Paddel in die Wellen. Einmal links, einmal rechts, einmal links, einmal rechts. Das orange Kanu trägt die junge Polin und mich durch die Wogen. Es ist ein schöner Tag, aber nicht wolkenlos. Das Meer ist sanft, aber nicht ganz still. Knapp eine Stunde kämpfen wir uns durch die See. Dann steuern wir unser kleines Boot in eine verlassene Bucht. Am Tofu Cape an der Ostküste Taiwans ist der Strand kieselig und schwarz.

Die grasbewachsenen Hügel ringsum wirken dadurch noch grüner, das Meer noch blauer. In Rettungswesten schaukeln wir nun mit dem Ozean auf Augenhöhe und lassen uns – das salzige Wasser in den Mundwinkeln – von den Wellen an den Strand tragen. Von dort führt ein Seil einen steilen Hügel hinauf, an dem die Kanus hochgezogen werden. Von oben sehen sie aus wie bunte Striche auf schwarzem Untergrund. Der Ozean wird immer größer, wie eine endlos blaue Decke erstreckt er sich über den Horizont.

Umfangreiches Wandernetz

Lektion vier: Egal wo in Taiwan, Wasser und Berge sind immer nahe beieinander. Das gilt für die Küstenregionen genauso wie fürs Landesinnere. In den Bergen in Zentraltaiwan ist man nie weit entfernt von einem Fluss, einem Bach oder einem Wasserfall. Es ist wohl kein Zufall, dass das "Rivertracing" hier besonders beliebt ist. Dabei werden die Bäche und Flüsse selbst zum Wanderweg.

Wer es klassisch bevorzugt, kann das umfangreiche Wandernetz benutzen, das die Insel umspannt. Die Wege werden teils von der Regierung, teils von Vereinen wie der Taiwan Thousand Miles Trail Association instandgehalten. Beim Treffen mit zwei Mitgliedern bei Tee und Keksen in Taipeh erzählt uns Leiterin Chou Sheng-Hsin, dass das Wandern auf Taiwan unter Einheimischen in den vergangenen Jahren sehr populär geworden ist. Doch man würde gerne mehr internationale Gäste sehen: Denn Taiwan sei aufgrund der politischen Situation auf der internationalen Bühne ohnehin marginalisiert, meint Chou. "Aber Taiwan hat so viel mehr zu bieten; so viel, das nicht gesehen wird."

Bei allen urbanen Hotspots – Taiwan ist ein Paradies für Outdoor- und Aktivfans.
Bei allen urbanen Hotspots – Taiwan ist ein Paradies für Outdoor- und Aktivfans.
Taipeh Tourism Office

Rund zweihundert Kilometer weiter südlich, in Alishan am Fuße des höchsten Bergs Taiwans, knöpft sich Sophia Liu ihren olivgrünen Trenchcoat zu. Das Wetter schlägt um. Ja, auch das ist Taiwan: Auf der subtropischen Insel regnet es gar nicht so selten. Die Brücke über das Unterholz haben wir längst verlassen, wir folgen nun einem der vielen Wanderwege weiter durch den Zypressenwald. Der Nebel wird dichter, die Bäume um uns lassen sich bald nur noch als Schatten in den Nebelschwaden erahnen. Sophias Stimme ist irgendwo weiter vorne verklungen.

Während ich einen Schritt vor den anderen setze, offenbart sich Taiwans letzte Lektion: Wandern im Nebel hat etwas. Es bringt einen runter, rückt den Blick aufs Unmittelbare, bringt einen ins Hier und Jetzt. Irgendwie – fast meditativ. (Anna Sawerthal 18.4.2024)