Mit Sachlichkeit und investigativem Thrill für das Handeln in heißen Zeiten: der deutsche Architekt und Ingenieur Werner Sobek.
René Mueller Photographie. showyourstripes / Creative Commons. Collage: Der Standard.

Werner Sobek ist als Architekt und Ingenieur weltweit an zahllosen namhaften Bauten beteiligt, sein radikal-minimales Hightech-Wohnhaus R128 in Stuttgart sorgte für Aufsehen. Heute, im professoralen Unruhestand, ist der 70-Jährige unermüdlich als Missionar des materialsparenden Bauens unterwegs, berät die Politik und warnt vor den Konsequenzen der Klimakrise. Er ist Themenbotschafter der Architekturtage 24, die im Juni in ganz Österreich stattfinden.

STANDARD: Die Architekturtage finden dieses Jahr unter dem Motto "Geht's noch?" statt. Was ist Ihre erste Assoziation zu dieser Frage?

Sobek: Ich habe zwei Assoziationen. Die eine ist: Wie kann man nur fragen, ob wir so weitermachen können wie bisher? Die andere ist: Es ist doch schon lange klar, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Also müssen wir jetzt endlich die wesentlichen Fragen, vor denen wir stehen, behandeln – anstatt uns im Unwesentlichen wie den Details einer Heizungsverordnung zu verheddern. Wir müssen mit Distanz auf die Situation unserer Menschengesellschaft schauen, unser Handeln analysieren und die Werte, nach denen wir leben wollen, neu definieren.

STANARD: Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass die globale Erwärmung die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts sein wird?

Sobek: Vor zwanzig Jahren ungefähr. Da wurde mir klar, dass sich durch die ungleiche Verteilung der Erderwärmung die Landflächen sehr viel stärker erhitzen als der globale Durchschnitt, am stärksten in einem Bereich zwischen dem 20. und 40. nördlichen Breitengrad, in dem viereinhalb Milliarden Menschen leben und in dem das Gros der Nahrung produziert wird. Genau dort stehen uns schlimme Trockenperioden und Hitzewellen bevor. Das kann man seit mehr als zehn Jahren im Mittelmeerraum oder in Kalifornien beobachten.

STANDARD: Was sind die Konsequenzen?

Sobek: Die Obst- und Gemüsegärten Europas beginnen zunehmend unfruchtbar zu werden. Das heißt auch, dass die Bauern dort ihre Arbeit aufgeben werden und anfangen zu migrieren. Dann müssen wir für diese Menschen eine neue Heimat bauen. Das bedeutet aber nicht einfach, hunderttausende Wohnungen irgendwo zu bauen, sondern diese Wohnungen plus der zugehörigen Infrastruktur zu errichten. Gleichzeitig wird sich durch das Steigen der Lebensmittelpreise die Schere zwischen Reich und Arm weiter öffnen. Und das, obwohl heute genügend Getreide produziert wird, um die gesamte Weltbevölkerung sehr sättigend zu ernähren.

STANDARD: Sie haben diese Erkenntnisse und diese Dringlichkeit in der Buchtrilogie "Non Nobis – über das Bauen in der Zukunft" gebündelt, deren zweiter Teil vor kurzem erschienen ist.

Sobek: Das ist das Ergebnis von harter Arbeit, dem investigativen Thrill des Verstehenwollens, die Sehnsucht des Wissenschafters in mir. Band eins beschäftigt sich mit dem Status quo: Ressourcenverbrauch, Abfallaufkommen, Emissionen und was daraus folgt, zum Beispiel in Bezug auf die Klimaerwärmung. Band zwei beschreibt die Randbedingungen für zukünftiges menschliches Handeln: Was sind die Konsequenzen, wenn wir weiterhin so viel, und was, wenn wir weniger emittieren? Wenn in der Zone zwischen dem 20. und dem 40. nördlichen Breitengrad, in der viereinhalb Milliarden Menschen wohnen, nur zehn Prozent der Einwohner ihre Wohnorte hitze-, arbeits- oder hungerbedingt verlassen, dann sind dies 450 Millionen. Wohin werden sie gehen? Und was passiert mit einer Stadt, in der es zu manchen Jahreszeiten so heiß wird, dass sie für Teile der Bevölkerung nicht mehr bewohnbar ist?

STANDARD: Warum macht man sich als Architekt und Ingenieur solche Gedanken?

Sobek: Wir haben den Versuch einer Produktion menschlicher Heimat zum Beruf. Um diese Verantwortung tragen zu können, muss ich bereits heute Werkzeuge entwickeln, die ich in Zukunft, bei einem eventuellen Eintreten der extremen Situationen, einsetzen kann. Dazu muss ich heute in Szenarien darüber nachdenken, wie die Welt in 20, 30 Jahren aussehen könnte. Buch drei wird zeigen, wie eine Gesellschaft agieren müsste, um in der Lage zu sein, das, was auf uns zukommt, zu dämpfen oder abzuwenden. Das erfordert das Verstehen des Ganzen im naturwissenschaftlichen Sinn.

STANDARD: In den letzten Jahren wird auch in der Öffentlichkeit über Abrissstopp, Bodenversiegelung, Zersiedelung und das Bauwesen als CO2-Sünder diskutiert. Wird den Fachleuten jetzt mehr Gehör geschenkt?

Sobek: Die Bauwirtschaft steht für über 50 Prozent der weltweiten Emissionen, für rund 60 Prozent des weltweiten Ressourcenverbrauchs und für etwa 50 Prozent des Massenmüllaufkommens. Sie stellt also einen großen Hebel dar, mit dem man Umweltprobleme deutlich reduzieren oder verstärken kann. Die Architekten und die Ingenieure haben diesen Hebel in der Hand. Jener der Ingenieure ist genauso groß wie jener der Architekten, wenn nicht sogar größer. Denn vieles können nur Ingenieure. Beispielsweise ein Haus so zu planen, dass es materialminimal ist. Oder so recyclinggerecht, dass man es später wieder in einzelne sortenreine Komponenten trennen kann. Leider sind die Ingenieure viel zu still und bringen ihr Wissen nicht in den öffentlichen Diskurs ein.

STANDARD: Ihr eigenes Wohnhaus R128 in Stuttgart wurde vor 25 Jahren berühmt, weil es Ökologie und Materialersparnis mit Hightech und Sensorik kombinierte. Ist Hightech heute noch ein ideales Mittel gegen die Klimakrise?

Sobek: Hier muss man unterscheiden zwischen den Fragen nach Technisierung oder Enttechnisierung einerseits und der Veränderung der Werkstoffpalette andererseits. Beim Haus R128 hatte ich mich ins damals Unbekannte vorgewagt und mich gefragt: Haben wir wirklich, wie damals alle sagten, ein Energieproblem? Oder haben wir nicht eher ein Emissionsproblem? Es ist doch, gesamtgesellschaftlich gesehen, eigentlich egal, wie viel Energie der Einzelne benötigt, solange er diese Energie für sich selbst bereitstellt. Also habe ich ein Haus ohne Schornstein mit 150 Quadratmeter Photovoltaik gebaut, in dem ich seit 2000 lebe. Das Energiemanagement lässt sich über das Handy steuern, und die Lichtschalter auch. Hier lernte ich: Jetzt bist du zu weit gegangen. Denn wenn ich im Bett liege und das Licht ausmachen will, dafür aber ins vierte Untermenü meines Handys gehen muss, dann ist das eigentlich nicht sonderlich sexy. Aber nur durch solche Erfahrungen lernt man hinzu. Heute machen wir das anders.

STANDARD: Heute hat die Architektur den Lehmbau wiederentdeckt und propagiert das einfache Bauen aus natürlichen Materialien.

Sobek: Wenn man aus einem Material, ohne Lüftungsanlage, ohne Sensoren und ohne dies und jenes baut und das mit Qualität hinbekommt, dann ist das eine wunderbare Leistung. Aber das heißt nicht, dass andere Lösungen schlechter sind. Die Frage ist aber immer, ob das alles im Einzelfall sinnstiftend ist. Es ist definitiv nicht sinnstiftend, sich ein Lehmhaus zu bauen und den Lehm dafür über Hunderte von Kilometern heranzuschaffen. Denn wir müssen die transportbedingten Emissionen stets mit den auf der Baustoffseite eingesparten Emissionen vergleichen. Und da kippt der eine oder andere Vorteil schnell weg.

STANDARD: Bleiben wir bei natürlichen Materialien. Sie haben sich immer wieder kritisch über die Holzbau-Euphorie der letzten Jahre geäußert. Ist Holz nicht das Allheilmittel des ökologischen Bauens?

Sobek: Ich baue gerade eine große Plusenergie-Siedlung in Holzmodulbauweise in Deutschland. Ich bin ein Fan von Holz. Aber um Baustoffe vergleichen zu können, muss man präzise argumentieren. Wichtig zu verstehen ist, dass Holz eine Doppelfunktion hat. Als Baum oder Wald ist es eine unserer wichtigsten CO2-Senken. Zudem kühlen unsere Wälder die Atmosphäre via Transpiration. Holz ist aber auch wesentlicher Rohstoff mit außerordentlich guten Eigenschaften, insbesondere Recyclingeigenschaften. Wenn wir unsere Wälder so bewirtschaften, dass die CO2-Bindungslücke, die durch das Fällen eines Baumes entsteht, klein bleibt, und wenn wir gleichzeitig auf das Verbrennen von Holz, Holznebenprodukten und Holzabfällen verzichten, dann haben wir das ideale Gleichgewicht erzielt.

STANDARD: Nicht nur Ihre Bücher sind Teil der Vermittlungsarbeit, Sie beraten auch Politikerinnen und Politiker. Wie erfolgreich ist das?

Sobek: Sehr. Ich habe großen Respekt vor deren Arbeit. Häufig beobachte ich, wie ein Minister aus einer Debatte über Marschflugkörper kommt, dann sofort irgendwo hinfliegen muss, um vor einem Gewerkschaftsgremium zu reden, dann einen Seniorenverein besucht und abends noch mal eine Veranstaltung meistern muss. Dabei wird jede Äußerung strengstens beobachtet, und wenn ein Wort falsch platziert ist, wird er oder sie medial sofort zerrissen. Das muss man ja erst mal aushalten. Dass man dann bei dieser Breite der Aufgaben nicht in der Tiefe der Probleme beheimatet sein kann, ist eigentlich naheliegend. Wenn ich diesen Menschen aber erkläre, was diese Tiefe ganz konkret bedeutet, dann höre ich oft ein "Jetzt habe ich es verstanden". Diese Erklärungsarbeit ist mein Beitrag zu einer sinnvollen Politik. Ich mache sie ohne Lobbyinteressen, ohne Eigeninteressen und kostenlos, als Bürger Europas.

STANDARD: Ist die Demokratie mit ihren Legislaturperioden und Kompromissen geeignet, mit einem Notstand wie der Klimakrise umzugehen?

Sobek: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es mit der heutigen demokratischen Struktur nicht schaffen. Vor jeder Wahl ist Wahlkampf, nach jeder Wahl ist Einarbeitungsphase. Eine Demokratie muss sich Mechanismen schaffen, die über eine längere Periode kraftvolles Agieren ermöglichen, eine Konstanz. Das ist für mich keine Gefährdung der Demokratie, sondern eine Methode zur Erhaltung ihrer Gesundheit. Schauen Sie sich die Situation in Deutschland an. Das Bundes-Klimaschutzgesetz von 2021 ist das wichtigste Gesetz der neueren Zeit. Es wurde vom Gesetzgeber selbst und in der Folge auch von der Bevölkerung seither einfach nicht beachtet. Jetzt soll es neu gefasst, das heißt inhaltlich geschwächt werden. Das sind vier verlorene Jahre im Kampf gegen das größte Problem unserer Zeit. So erreichen wir die Klimaziele aber nicht!

STANDARD: Was gibt Ihnen Hoffnung, dass wir es dennoch schaffen?

Sobek: Ich glaube, dass es bald in Teilen der Welt so kritisch werden wird, dass die Leute realisieren und akzeptieren, dass sie sich die Dinge, die sie sich leisten können, nicht mehr leisten sollten. Und dass sie denjenigen, die sich selbst nicht mehr helfen können, helfen müssen. Die Erkenntnis, dass wir unser gemeinsames Haus, das über uns zusammenzubrechen droht, bewahren müssen. Aber zur Einsicht kommen wir wahrscheinlich nur durch existenzielle Angst, zum uneigennützigen Handeln wahrscheinlich nur durch das Eintreten massiver Katastrophen. (Maik Novotny, 7.4.2024)