Kaum sind die letzten Töne seines Wahlkampfsongs "Her Şey Çok Güzel Olacak" (Alles wird sehr schön werden) verklungen, da kniet Ekrem İmamoğlu bereits am Rand der Bühne. Er schüttelt Hände, stemmt Kleinkinder hoch, die ihm gereicht werden, und macht Selfies mit aufgeregten Anhängerinnen, die ihm ihr Handy aufgedrängt haben. İmamoğlu, Mitglied der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP, ist auf Wahlkampftour in Ümraniye, einem Istanbuler Außenbezirk, der bei den letzten Kommunalwahlen klar an seinen politischen Gegner von der AKP gegangen war. Seit fünf Jahren ist İmamoğlu nun Oberbürgermeister Istanbuls, einer Stadt, die mit über 16 Millionen Menschen mehr Einwohner und Einwohnerinnen hat als viele EU-Länder in deren Gesamtheit. Bei den landesweit am kommenden Sonntag stattfindenden Kommunalwahlen will er in Istanbul wiedergewählt werden.

Ekrem İmamoğlu
Ekrem İmamoğlu hofft, den Bürgermeistersessel in Istanbul behalten zu können.
REUTERS/Umit Bektas

Als er und seine CHP vor fünf Jahren in der Metropole gewannen, war das eine kleine Revolution. Mehr als 20 Jahre lang war Istanbul von der AKP, der Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, regiert worden, selbst davor noch von einer ebenfalls islamischen Vorgängerpartei der AKP. Erdoğan war in den 1990er-Jahren selbst Oberbürgermeister von Istanbul – seitdem betrachtet er die Metropole als seinen Erbhof. Umso größer war damals der Schock über den Verlust der Stadt. Und entsprechend groß war die Freude der CHP und der gesamten Opposition über den Sieg damals.

Mit dem Erfolg in Istanbul und in sechs weiteren Millionenstädten im Rücken, hoffte die Opposition bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 Erdoğan endlich ablösen zu können. Das ging bekanntlich schief – und seitdem herrscht eine weitverbreitete Depression bei der türkischen Opposition. Gelingt İmamoğlu am kommenden Sonntag erneut ein Sieg, könnte das die Stimmung wieder aufhellen, und er wäre endgültig auch als nationaler Herausforderer Erdoğans etabliert. Schon jetzt ist der von der AKP nominierte Gegenkandidat Murat Kurum nur ein Scheinkandidat. Den Wahlkampf in Istanbul bestreitet im Wesentlichen Erdoğan selbst – zuletzt am Sonntag mit einer Großkundgebung auf dem Rollfeld des ehemaligen Atatürk-Flughafens. Sollte Kurum gewinnen, ist er nicht mehr als ein Platzhalter für Erdoğan.

Begnadeter Redner

Als İmamoğlu zu seiner Wahlkundgebung in Ümraniye eintrifft, ist die Stimmung noch verhalten. Es ist ein nasskalter Märztag, und Ümraniye ist nicht unbedingt ein Heimspiel für ihn. Die Menschen hier wollen erst noch überzeugt werden. Immerhin: Es sind mehrere Tausend Leute gekommen, die sich vor der Bühne am Ende einer Fußgängerzone zusammendrängen. İmamoğlu lockert zunächst die Stimmung auf, bevor er über seine Errungenschaft als Bürgermeister spricht. Es gibt wenige so begnadete Wahlkämpfer in der Türkei wie den 52-Jährigen, was zu einem guten Teil zu seinem Überraschungserfolg vor fünf Jahren beigetragen hat. Als er sicher ist, dass die Leute zuhören, beginnt er seine Leistungen der vergangenen fünf Jahre aufzuzählen. Viele nicken anerkennend, weil zumindest einiges davon sich in der Lebensrealität der Leute wiederfindet. Er habe "nur 87 Prozent" seiner Versprechungen gehalten, soll AKP-Kandidat Murat gesagt haben – ohne zu merken, dass das doch eine wirklich bemerkenswerte Erfolgsquote für den politischen Gegner ist.

Dennoch: Obwohl İmamoğlu durchaus beliebt ist und er jetzt als Amtsinhaber mit wesentlich mehr Ressourcen als vor fünf Jahren Wahlkampf machen kann, ist ein Erfolg für ihn keineswegs sicher. In den Umfragen liegt er nur zwei Prozent vor Kurum, lediglich bei einem Institut führt er mit sieben Prozent. Das liegt vor allem daran, dass die Oppositionsallianz nach der Niederlage im Mai 2023 zerbrochen ist und nun völlig zersplittert auftritt. Jede Partei der früheren Allianz hat einen eigenen Kandidaten nominiert, und jeder Prozentpunkt, den jetzt eine Kandidatin der kurdischen DEM oder der nationalkonservativen IYI-Partei gewinnt, wird İmamoğlu im Kampf gegen Erdoğans Platzhalter Kurum am Ende fehlen.

Plakat mit Murat Kurum und Recep Tayyip Erdoğan
Murat Kurum (links) ist de facto nur ein Scheinkandidat anstelle von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
EPA/ERDEM SAHIN

"Das ist politischer Wahnsinn", sagt Murat P.*, Anhänger der kurdischen Partei, der mit dieser Entscheidung nicht einverstanden ist. "Meral Danış Beştaş, die Frau, die nun für die DEM – besser bekannt unter ihrem früheren Namen HDP – antreten wird, kann nach den bisherigen Umfragen ungefähr vier bis fünf Prozent holen. Was haben wir von diesen vier Prozent, wenn Erdoğan sich dafür Istanbul zurückholt?", fragt er. "Vielleicht kommt es ja in den letzten Tagen vor den Wahlen doch noch zu einer Einigung." Gespräche gebe es. Das hat auch Ayse A.* gehört, die bei einer armenischen Stiftung arbeitet und eine weitere Islamisierung der Stadt befürchtet. "Ich mag İmamoğlu nicht besonders", sagt sie, "er ist auch ein Populist, aber ich hoffe dennoch sehr, dass er gewinnt. Wir brauchen die Regierung İmamoğlus in Istanbul als Gegengewicht zu Erdoğans Dauerregime an der Spitze des Staates."

Akzente gesetzt

In seinen fünf Jahren als Oberbürgermeister von Istanbul hat İmamoğlu vor allem in der Kulturpolitik und bei der Unterstützung der Frauen Akzente gesetzt. Er hat Kindergärten bauen lassen, damit Frauen leichter berufstätig sein können, und er hat für Mütter mit kleinen Kindern eine Freifahrkarte für den öffentlichen Nahverkehr eingeführt. Sein Gegenkandidat Kurum verspricht dagegen mehr Wohnungen zu bauen, mehr Straßen, aber auch mehr Schienenverkehr, um den permanenten Verkehrsinfarkt Istanbuls aufzulösen. Das kostet natürlich viel Geld – und dieses Geld kommt im türkischen Zentralstaat vor allem von der Regierung in Ankara.

Jeder Stadt stehen nach ihrem Bevölkerungsschlüssel entsprechende Zahlungen zu, aber ob und wann das Geld kommt, hängt natürlich von der Regierung ab. Erdoğan hat nach der Niederlage vor fünf Jahren erst einmal die Gelder für Istanbul eingefroren und versucht, İmamoğlu so zu Fall zu bringen. Der Weiterbau verschiedener U-Bahn Projekte musste gestoppt werden, auch anderswo kam es zu Engpässen. Am Ende musste die AKP aber befürchten, dass dieser Versuch der finanziellen Strangulierung letztlich auf sie selbst zurückfällt. Außerdem ist Istanbul eine reiche Stadt. In der größten Metropole des Landes wird rund ein Drittel des Bruttosozialprodukts der gesamten Türkei erwirtschaftet – da finden sich immer Wege, an Geld zu kommen.

Dennoch versucht Erdoğan auch in diesem Kommunalwahlkampf wieder mit finanzieller Erpressung zu drohen. In dem Erdbebengebiet in Hatay, bislang eine CHP-Hochburg, hat er offen gesagt: Wenn die Bürger und Bürgerinnen eine andere Partei wählen als die, die in Ankara regiert, wird es schwierig mit dem Wiederaufbau. Auch bei seiner Wahlkampftour durch die überwiegend kurdisch bewohnten Städte im Südosten des Landes, da, wo die DEM stark ist, machte er immer wieder klar, dass Investitionen vor allem dann fließen, wenn seine AKP auch vor Ort regiert. Gerade in ärmeren Gemeinden ist das ein starkes Motiv, letztlich die Kandidaten der AKP zu wählen.

Doch Bürgermeister İmamoğlu hat in den vergangenen fünf Jahren gezeigt, dass man auch gegen die Zentralregierung erfolgreich Politik machen kann. Viele Zuhörer und Zuhörerinnen sind von seinem Auftritt in Ümraniye begeistert. "Ich hoffe, er schafft es", sagt eine Frau. "Es wird schwer für ihn. Aber ich glaube von ganzem Herzen, dass er Istanbul halten kann." (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 29.3.2024)

*Namen von der Redaktion geändert.