Sandra Paier hat nicht viel Zeit. Sie hält bereits den ersten Kindern die Tür zum Gemeindehaus auf, in dem sie heute Nachmittag Ostereier anmalen sollen. "Ich muss gleich wieder los, auf die Kinder aufpassen", sagt sie. Paier ist Vizebürgermeisterin von Andlersdorf, einer kleinen Gemeinde im Süden des Marchfelds in Niederösterreich. Die meiste Zeit jedoch arbeitet sie nicht in Andlersdorf, sondern in Wien. "Viele, die keine Landwirte hier sind, pendeln", sagt sie. Fast alle nehmen dafür das Auto. Die Verkehrsanbindung sei schlecht, auch untertags. "Bis zur Stadtgrenze nach Wien sind es nur zwölf Kilometer. Trotzdem bekomme ich die große Pendlerpauschale. Das heißt schon was."

Andlersdorf ist leicht zu übersehen: ein paar Häuser, die entlang der Hauptstraße stehen, eine Kirche, ein Pferdestall, ein kleiner Hofladen und ein unscheinbares Gemeindehaus. 154 Einwohnerinnen und Einwohner, 148 Autos. Das brachte den kleinen Ort kürzlich doch ins Rampenlicht: Laut einer aktuellen Studie des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ) gibt es in keiner anderen Gemeinde Österreichs so viele private Pkws pro Einwohner.

Oft Staus

In Andlersdorf kennen einige die Statistik. "Es ist klar, dass die Leute alle mit dem Auto fahren müssen", sagt Angela Fabian, die ihre Kinder am Nachmittag ebenfalls zum Ostereierbemalen ins Gemeindehaus gebracht hat. "Hier gibt es nichts. Keinen Kindergarten, keine Schule, keinen Supermarkt." Zum Einkaufen oder wenn sie die Kinder in die Schule bringt, fährt sie mit dem Auto ins nahegelegene Orth an der Donau. Für die Marmeladen, die sie in ihrem Betrieb herstellt und auf Märkten in Wien verkauft, nehme sie ebenfalls das Auto. "Wir haben zum Glück genug Fahrzeuge bei uns stehen."

Andlersdorf, Auto, Verkehr
In Andlersdorf sei es jeder gewohnt, mit dem Auto zu fahren, sagt Vizebürgermeisterin Sandra Paier.
Jakob Pallinger

Dass in Andlersdorf und in anderen Gemeinden im Marchfeld die Pkw-Dichte hoch ist, stört immer wieder auch die Bewohnerinnen selbst. "Um 16 Uhr ist es in Groß-Enzersdorf nicht mehr lustig zu fahren", sagt Paier. Dann staue es sich durch den Pendlerverkehr auf den Straßen. Einige Gemeinden hoffen deshalb auf den Bau der Marchfeld-Schnellstraße, die den Durchzugsverkehr entlasten soll. Langfristig könnte das die Verkehrsbelastung jedoch noch erhöhen, fürchten einige Expertinnen.

Sammeltaxis eingestellt

Ein weiteres Problem: Ältere Menschen, Kinder und Jugendliche, sozial Schwache oder andere, die kein Auto besitzen oder nicht selbst fahren können, sind in ihrer Mobilität eingeschränkt. Gerade diese Menschen sollte ein Anrufsammeltaxi im Marchfeld, das sogenannte Marchfeld mobil, in den vergangenen Jahren vernetzen und damit eine Alternative zum Auto bieten.

Das Prinzip: Via App oder telefonisch konnten Bewohnerinnen und Bewohner Fahrten buchen. Innerhalb von maximal einer Stunde sollte dann ein Taxi vor Ort sein, das bestimmte Haltestellen in der Region abfährt. Um die Fahrten leistbarer zu machen, wurde das Projekt bisher vom Land Niederösterreich und den Gemeinden subventioniert.

Marchfeld mobil, Sammeltaxis 
So sahen die Haltestellen für die Sammeltaxis bisher aus, die Menschen mit anderen Gemeinden, Supermärkten, Ärzten und öffentlichen Verkehrsmitteln im Marchfeld in Niederösterreich vernetzen sollten.
ISTmobil

Nun soll Marchfeld mobil jedoch auslaufen. Auf einem Fahrplan im Gemeindehaus von Andlersdorf klebt bereits ein rosa Zettel mit der Aufschrift "Wird mit Ende März eingestellt". Darunter sind noch die Verbindungen, etwa von Andlersdorf nach Orth oder nach Marchegg oder Gänserndorf, mitsamt den Tarifen eingezeichnet. Laut René Lobner, Regionsobmann und Bürgermeister von Gänserndorf, sei das Projekt nicht so treffsicher gewesen wie erhofft. Wenige Menschen hätten sehr viele Fahrten genutzt. Anstatt für Ausflüge seien die Sammeltaxis für Fahrten zum Arzt, zum Einkaufen oder zum Arbeitsplatz gedacht gewesen.

Viele Geisterbuslinien

Alexander Fellner-Stiasny, Geschäftsführer von IST mobil, dem Betreiber von Marchfeld mobil, kann die Entscheidung nicht nachvollziehen. "Wir haben in den vergangenen fünf Jahren mit Sammeltaxis über 120.000 Fahrgäste transportiert", sagt er zum STANDARD – vor allem ältere und weniger mobile Menschen. Gerade in zersiedelten Regionen wie dem Marchfeld brauche es ein flexibles öffentliches Nahverkehrsmodell als Alternative zum Auto. "Viele Gemeinden haben mit Geisterbuslinien, mit denen niemand fährt, in den vergangenen Jahren Millionen verschwendet."

Sammeltaxis, Ist mobil
So sehen die Sammeltaxis aus, die IST mobil in den vergangenen Jahren im Marchfeld betrieb.
Istmobil

Zudem belaste ein Zweitauto das Haushaltsbudget vieler Familien, was gerade in Zeiten von hoher Inflation problematisch sei, sagt Fellner-Stiasny. Je länger ein alternatives System wie jenes der Sammeltaxis laufe, desto häufiger werde es von den Menschen genutzt. "Gäbe es so etwas flächendeckend in Österreich, könnten wir damit über eine Million private Pkws einsparen."

Auf Kosten der Steuerzahler

In der Realität scheint die Umsetzung jedoch schwieriger zu sein. Von den Bewohnerinnen und Bewohnern in Andlersdorf hat bisher kaum jemand mit den Sammeltaxis Erfahrungen gemacht, manche haben überhaupt noch nie davon gehört. "Ich habe versucht, meinen Mann, der selbst nicht mehr mit dem Auto fahren kann, davon zu überzeugen, ab und zu ein Sammeltaxi zu nehmen. Aber er will nicht", sagt Irida Berlin, die gerade vom Reitstall zu ihrem Auto geht. Auch die meisten ihrer Schülerinnen und Schüler in der Reitschule werden mit dem Auto hergebracht, viele kommen aus Wien. "Das ist schon seit Jahrzehnten so."

Andlersdorf, Reitklub
Irida Berlin arbeitet immer noch in dem Reitklub in Andlersdorf mit, den sie mittlerweile an die nächste Generation übergeben hat. Ohne Auto sei die Anreise für die meisten Mitglieder schwierig, gerade am Sonntag, wenn keine Busse fahren, sagt sie.
Jakob Pallinger

Im Gemeindeamt trauert man dem Aus der Sammeltaxis nicht nach. "Wir waren eher aus Solidarität dabei", sagt Gerhard Paier, Bürgermeister von Andlersdorf und Schwiegervater von Sandra Paier. In Andlersdorf direkt habe es keine Haltestelle für die Sammeltaxis gegeben. Wenn die Taxis 20 Kilometer Anfahrtsweg haben, um Menschen im Ort abzuholen, gehe das durch die Subventionierung auf Kosten aller Steuerzahler. Stattdessen gebe es Busse im Ort, mit denen auch eine Anbindung nach Wien möglich sei. "Leider fahren diese jetzt schon meistens alle leer."

"Leidensdruck ist zu gering"

Georg Hauger, Verkehrsplaner an der TU Wien, kennt diese Probleme. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit der Mobilität auf dem Land. "Land ist aber nicht gleich Land. Während sich schmale Täler in Tirol oder Vorarlberg vergleichsweise gut vernetzen lassen, kommen im Marchfeld, aber auch im Wein- und Waldviertel mit ihrer flächigen Struktur alle Nachteile zusammen", sagt er. Gerade für die erste und letzte Meile der Wege könne es durch die verstreuten Siedlungen und Häuser nie kostendeckende Angebote geben. Der Fahrradverkehr sei im Marchfeld nach wie vor unterentwickelt, alternative Systeme wie Sammeltaxis scheitern häufig an Verständlichkeit und Bequemlichkeit. "Der Leidensdruck ist immer noch zu gering. Jeder macht sein eigenes Ding, die Autoabhängigkeit steigt."

Hinzu kommt: Werden alternative Verkehrssysteme wie Marchfeld mobil nach einigen Jahren wieder gestrichen, haben jene Menschen, die den Service bisher genutzt haben, plötzlich ein Problem, sagt Hauger. "Viele müssen nicht nur, sondern wollen auch auf ihr eigenes Auto angewiesen sein."

E-Bus und Taxigutscheine

Welche Lösungen gibt es, um vergleichsweise schlecht angebundene Gemeinden künftig besser zu vernetzen? In Andlersdorf selbst vertraut man auf einen E-Bus mit neun Sitzen, den Bewohnerinnen und Bewohner seit einiger Zeit über ihr Handy buchen können und der mit der PV-Anlage am Dach der Gemeinde geladen wird. "Der wurde bisher ganz gut angenommen", sagt Bürgermeister Paier. Gemeinsam mit anderen Gemeinden im Marchfeld soll es zudem ab April statt der Sammeltaxis Taxigutscheine für mobilitätseingeschränkte Personen geben.

E-Bus, Andlersdorf
Wer früh genug reserviert, kann in Andlersdorf einen E-Bus für gemeinsame Fahrten nutzen.
Jakob Pallinger

"Solche Taxigutscheine können niemals ein gleichwertiger Ersatz zu den Sammeltaxis sein", sagt Fellner-Stiasny. Er wolle den Service Marchfeld mobil gemeinsam mit den Taxiunternehmen künftig weiter anbieten. Einzelne Gemeinden können sich nach wie vor finanziell daran beteiligen. "Die Tarife werden aber voraussichtlich drei- bis viermal teurer sein als bisher."

Vereine für Fahrten nutzen

Wo wie im Marchfeld meist die Nachfrage fehle, können private Mobilitätsinitiativen ohne öffentliche Unterstützung schwer funktionieren, sagt Hauger. Öffentlich-private Partnerschaften, bei denen die öffentliche Hand Fehlbeträge von Carsharing-Angeboten oder Sammeltaxis abdeckt, können in Summe dennoch billiger sein als klassische öffentliche Busse, die zu ungelegenen Zeiten oder in Gebiete fahren, in denen sie niemand braucht.

Andlersdorf, Bus
Einmal in der Stunde fährt durch Andlersdorf auch der Bus, zum Beispiel nach Orth an der Donau. In den meisten Fällen ist er leer, sagt Bürgermeister Paier.
Jakob Pallinger

Potenzial sieht Hauger aber auch in den Vereinsstrukturen in den Gemeinden. "Da gibt es oft auch ein Vereinsfahrzeug, mit dem zumindest ein Teil der Wege kostengünstig abgefangen werden könnte." Bei Bedarf könnten Fahrten von Freiwilligen organisiert werden. Allerdings scheitern viele solcher Ideen häufig noch an juristischen Problemen und daran, wer wen mitnehmen darf. "Durch eine kleine Lockerung dieser Regeln könnte man künftig mehr solcher Lösungen ermöglichen."

"Ökostrom-Meister"

Im Zentrum von Andlersdorf, das untertags ziemlich ausgestorben wirkt, kommt am späteren Nachmittag etwas mehr Bewegung hinein. Die ersten Pendler kehren mit dem Auto in den Ort zurück. Rainer Pallier, Amtsleiter der Gemeinde, packt hingegen zusammen, um mit dem Auto zurück in seine Wohnung nach Wien zu fahren. Vorher führt er noch in den Innenhof der Gemeinde, zeigt stolz auf den E-Bus, der ungenutzt in seiner Garage steht, die PV-Anlage am Dach und die riesigen Windräder, die sich rings um Andlersdorf drehen. "Das ist die Zukunft."

Bereits jetzt produziere die Gemeinde mehr Strom, als sie selbst verbrauchen könne. "Wir sind Ökostrom-Meister", sagt Pallier. Das biete in Zukunft viel Potenzial, auf E-Autos umzusteigen. An den regelmäßigen Staus in Groß-Enzersdorf und der eingeschränkten Mobilität mancher Bewohnerinnen und Bewohner dürfte das jedoch wenig ändern. (Jakob Pallinger, 28.3.2024)