Das schmelzende Eis der Gletscher Grönlands hat Auswirkungen auf die Erdrotation und damit auf die Tageslänge.
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Manche natürlichen Vorgänge sind so regelmäßig und unbeeindruckt von allem, was sonst um uns herum passiert, dass wir sie zur Zeitmessung nutzen. Besonders prominent ist das Auf- und Untergehen der Sonne, das auf die Erdrotation zurückgeht und unser Leben in Tage ordnet. Auf längeren Zeitskalen sind es die Bewegungen der Erde um die Sonne, die wir als Jahre zählen.

Beide werden in unseren Kalendersystemen miteinander in Relation gesetzt. Ein Jahr besteht aus etwa 365 Tagen und ein paar sprichwörtlichen "Zerquetschten", die sich in Schaltjahren äußern. Denn natürlich haben Tage und Jahre physikalisch wenig miteinander zu tun und bilden daher auch kein ganzzahliges Verhältnis.

Zu den regelmäßigen Schaltjahren kommen kleinere Anpassungen der koordinierten Weltzeit UTC in Form von Schaltsekunden. Während wir die Veränderungen, die unsere elektronischen Geräte automatisch vornehmen, im Normalfall nicht bemerken, sind Schaltsekunden für vernetzte Computersysteme, Navigationssysteme oder den Finanzmarkt von großer Bedeutung.

Schaltsekunden für Erdrotation

Schaltsekunden werden seit den 1970er-Jahren immer wieder eingesetzt. Vor 1955 war die Sekunde einfach als Bruchteil eines Tages definiert und damit an die Erdrotation gebunden. Doch die Atomphysik bot mehr Genauigkeit, und die Sekunde wird seither anhand von Schwingungen des Caesium-Atoms festgesetzt. Das bedeutet, dass die Sekunde nun genauer festgelegt ist als die Erdrotation. Wer also Tage und Jahre nur über das Zählen von Sekunden ermittelt, wird zunehmend Abweichungen feststellen, die sich aus Ungenauigkeiten der Erdrotation ergeben.

Solche Ungenauigkeiten haben verschiedene Gründe. Himmelskörper verlangsamen normalerweise ihre Rotation oder ihre Bahnbewegung, die Rotation des Mondes gegenüber der Erde hat aufgrund von Gezeitenkräften schon vor langer Zeit aufgehört.

Um die Ungenauigkeiten der Erdrotation auszugleichen, wurden immer wieder Schaltsekunden verwendet. Uhren springen dabei um Mitternacht nicht auf null Uhr um, sondern zeigen eine Sekunde lang im Sekundenfeld nach der 59 die 60 an, bevor sie zu null wechseln. Doch nun könnte ein neues Problem auftreten, wie eine Studie im Fachjournal "Nature" nahelegt. Eigentlich wäre im Jahr 2026 eine weitere Schaltsekunde fällig gewesen. Diesmal hätte es eine negative Schaltsekunde sein sollen, dadurch verursacht, dass der Erdkern gegenüber den festen äußeren Schichten inklusive der Kruste schneller rotiert und die Rotation des von außen sichtbaren Teils der Erde beschleunigt. Damit verlangsamt sich die Erdrotation zwar insgesamt weiterhin, doch diese Verlangsamung wird schwächer, was im bisher gewählten Maß für die Sekunde nicht berücksichtigt ist.

So weit, so komplex. Die Modellrechnungen des Geophysikers Duncan Agnew von der University of California in San Diego zeigen nun allerdings, dass die Anpassung erst drei Jahre später fällig sein dürfte als bisher angenommen. Grund dafür ist das Abschmelzen der Gletscher Grönlands und der Antarktis. Das abschmelzende Wasser verlangsamt die Rotation und gleicht den Effekt des Erdkerns zum Teil aus.

Das Navigieren anhand des Himmels wird von Seeleuten nach wie vor erlernt, wie hier auf dem Trainingsschiff Esmeralda.
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Veränderte Konventionen

Agnew stellt in seiner Arbeit die bisherigen Konventionen zur Bestimmung der UTC infrage. Bis in die 1960er-Jahre wurde sowohl in der Schiff- als auch in der Luftfahrt vielfach noch mithilfe des Sternenhimmels navigiert. Es bedurfte also einer Zeitkonvention, die möglichst genau mit der Erdrotation übereinstimmt. Doch die zunehmend größere Gemeinschaft derer, die mit Telekommunikation arbeiteten, verlangte ein Zeitmaß, das möglichst wenige Sprünge aufwies und das Aufrechterhalten konstanter Funkfrequenzen erlaubte. Die Einführung von Schaltsekunden zu genau vereinbarten Zeitpunkten war ein Kompromiss.

Heute seien Computerzeitsysteme üblich, die es 1972 noch nicht gab, schreibt Agnew. Sie basieren auf der Zählung von Sekunden. Es gebe keine einfache Möglichkeit, eine "Schaltzahl" einzufügen oder wegzunehmen. "Die Unvorhersehbarkeit von Schaltsekunden macht es schwierig, eine riesige globale Infrastruktur zu synchronisieren", betont Agnew. Verschiedene Web-Dienste hätten dafür derzeit unterschiedliche Lösungen, die meist das Hinzufügen einer Sekunde erlauben. Das Entfernen einer Schaltsekunde sei problematischer. Agnew plädiert dafür, alternative Lösungen zu finden, die keine negativen Schaltsekunden nötig machen.

Schmelzendes Eis durch den Klimawandel macht das Problem jetzt noch komplexer. Auch wenn es in diesem Fall glücklicherweise durch die Verschiebung mehr Zeit für Anpassungen technischer Lösungen bringt. Agnew erwartet, dass der Klimawandel und das globale Zeitsystem auch in Zukunft verbunden bleiben. (Reinhard Kleindl, 28.3.2024)