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"Dieses Gewusel, das bewundere ich. Das ist für mich der Sockel der europäischen Einigung."

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Karl Schlögel, geb. 1948, vielfach ausgezeichneter deutscher Historiker, lehrt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Zuletzt erschien2008 "Terror und Traum. Moskau 1937" (Hanser, Buchpreis der Leipziger Buchmesse).

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Philipp Blom, geb. 1970, Schriftsteller, Historiker, Journalist. Zuletzt erschien sein viel gelobtes Werk "Böse Philosophen" (Hanser). Blom arbeitet an einem Buch über die Zeit zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg.

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Standard: Herr Professor Schlögel, Sie sind hier in Wien, um an einem Symposium über den Ersten Weltkrieg teilzunehmen ...

Schlögel: Ja, und wenn ich es recht sehe, ist die Intention dieser Veranstaltung, von dem einfachen Narrativ wegzukommen: Es gab diese Urkatastrophe, damit war das 19. Jahrhundert definitiv zu Ende, und das 20. Jh. begann. Aus großer zeitlicher Entfernung gibt es vielleicht plausiblere Deutungen, etwa die, dass die Fixierung auf 1914 bis 1918 ein falsches Bild ergibt; dass der eine große Krieg in eine Vielzahl anderer, größerer und kleinerer Kriege eingelagert war, dass es eine lange Anlaufzeit und eine Auflösungszeit gab.

Blom: Es gibt ja auch die These vom zweiten Dreißigjährigen Krieg, die mir persönlich auch interessant erscheint.

Schlögel: Ich bin über diese These auch nicht hinaus. Es gibt ein Zitat von Marechall Foch, der sagt: Versailles, das ist gar kein Friede, das ist ein Waffenstillstand für zwanzig Jahre. Meiner Meinung nach ist diese Deutung in ihrer Plausibilität unüberboten.

Standard: Was dem Ersten Weltkrieg voranging, war eine historische Phase, die man mit einigem Recht als frühe "Globalisierung" bezeichnen könnte.

Schlögel: Durchaus. Es gibt Darstellungen, die sagen, der Beginn des Weltmarkts und der Auftritt der USA auf der Weltbühne 1898 im Krieg gegen Spanien, das ist der Auftakt zu einer Globalisierung, und der ganze Kampf im 20. Jahrhundert geht um die Abwicklung der Zustände, die dieser Globalisierung im Wege stehen.

Blom: Es gibt für mich immer noch nicht den folgerichtigen Grund für den Ersten Weltkrieg, sondern lediglich ein Bündel von Ursachen, Ich habe immer wieder das Gefühl, es hat sich wirklich um einen garstigen Zufall in einer aufgeladenen Zeit gehandelt.

Schlögel: Ich würde es so formulieren: Es gab keine geschichtliche Mechanik, dass es so gelaufen ist. Es war aber auch nicht so, dass der Schuss von Sarajewo fiel und danach alles außer Kontrolle geriet. Es gab eine Konditioniertheit, eine Verfasstheit der Imperien, die dazu führte, dass es dann so aufeinanderknallte und diesen Ausgang nahm. Ich würde nicht sagen, dass man um diese Katastrophe herumgekommen wäre, wenn es ein anderes politisches Personal gegeben hätte, das weniger hysterisch, weniger panisch, weniger kurzsichtig gewesen wäre. Die Großaufstellung der Industriepotenziale, der kolonialen Appetite, der Möglichkeiten, interne Konflikte aus Europa zu exportieren in die Kolonien, Reichtümer zu akquirieren, um solche Städte wie London, Paris, Petersburg oder Wien aufzubauen, dahinter stehen große Formationen, die in vielen Jahrhunderten gewachsen sind. Hinter dem, was dann mit ungeheurer Gewalt eskaliert ist, steckt diese Kraft und Zerstörungskraft.

Blom: Das, was Sie sagen, ist faszinierend, und ich möchte Sie mit einem Problem konfrontieren, auf das ich bei meiner Arbeit häufig stoße: Wenn ich ein Buch über Geschichte und Mentalität schreiben und zeigen will, dass an verschiedenen Orten mit verschiedenen Verfasstheiten die Dinge einfach unterschiedlich funktionieren, dann scheint mir "Mentalität" etwas zu sein, das kaum greifbar ist und über Klischees hinaus auch nicht greifbar zu machen ist. Berührt sich diese Suche nach Mentalitäten eigentlich mit Ihrer Idee der "lokalisierten Geschichte" ?

Schlögel: Ich glaube, ja, aber ich würde sagen, dass mentale Komplexe immer in andere Formationen eingelagert sind. Zur Mentalität gehört der Stand des Landes, ob es bäuerlich ist oder industrialisiert, ob die Massen so diszipliniert sind, dass sie geneigt sind, einen großen Krieg zu führen.

Ich möchte den Vorteil einer räumlich gebundenen Betrachtung darin sehen, dass immer viele Dinge an einem Ort zusammenkommen. Alles, was eine Gesellschaft, ein Land, eine Stadt funktionieren macht, das ist dieser mentale Komplex. Wenn man über Wien zu Ende des 20. Jahrhunderts schreiben wollte, müsste man über die Architektur, die Eliten, das künstlerische Leben schreiben. Wenn man eine Situation - oder: mein Lieblingsausdruck ist eigentlich: eine Konstellation - beschreiben will, dann wäre der Job des Historikers: in Konstellationen so einzudringen, dass man sie sich vergegenwärtigen kann, nicht in dem Sinn, dass man daraus einen Schluss zieht, sondern man sie sich vor Augen führen und sie verstehen kann.

Standard: Ein Topos, der in den Darstellungen des Ersten Weltkriegs immer wieder auftaucht, ist der von der ungemeinen Freudigkeit, mit der die Völker in den Krieg zogen. Wie lässt sich denn eine solche Konstellation verstehen?

Blom: Ich glaube, man muss auch fragen, ob dieses Augusterlebnis richtig ist. Meiner Meinung nach ist es stark aufgebauscht worden. Abgesehen von den Leitartikeln findet man in Tagebüchern und Briefen viel Nachdenklichkeit oder ein Gefühl des Fatalismus. Aber dass alle Völker gejubelt und die Hüte in die Luft geworfen haben - man kennt die Fotos von den Bahnhöfen, aber wenn Sie 3000 alkoholisierte Rekruten haben, dann kriegen Sie solche Fotos. Ich glaube nicht, dass man das als typisch ansehen darf.

Schlögel: Vielleicht nicht diese Ausschnitte mit den euphorisierten Menschen, das ist sozusagen die Spitze der Mobilisierten, aber insgesamt muss man schon sagen, dass es kein Krieg nur der Eliten war, kein Staatskrieg, sondern dass es Völkerkriege waren, in denen Abermillionen von Menschen ins Feld gezogen sind, das dann zu einer existenziellen Erfahrung wurde. Dass es einen totalen Krieg geben würde, war nicht vorhersehbar. Unsere Retrospektive ist ja sehr bequem, da gibt es einen Anfang, ein Ende ... Alle Gegenwart ist immer blind, ob das, was geschieht - ein Beispiel: der Krieg in Afghanistan -, ganz andere Effekte haben wird als beabsichtigt ist. Aber ich glaube, es gab doch so eine gewisse Leichtigkeit, ein Überlegenheitsgefühl, auch dass man berechtigt ist, gegenüber den Rückständigen zivilisatorisch tätig zu werden, und zwar nicht nur bei den einfachen Leuten. Wir kennen ja auch die Manifeste der Intellektuellen von allen Seiten, die sich stark gemacht haben für den Krieg.

Blom: Um auf eines Ihrer engeren Forschungsgebiete, die Zwischenkriegszeit, zu kommen: Ich glaube, man unterschätzt aus der heutigen Perspektive auch sehr, wie wahnsinnig militarisiert diese Gesellschaften waren, erst durch die nationalistische Rhetorik, aber dann auch durch die vier Jahre Kriegserfahrung. Es war dann einfach natürlich, dass die politischen Parteien auch uniformierte Verbände hatten. Dazu kam die Diskreditierung des liberalen Gedankens - daher auch diese Suche nach den totalen Lösungen.

Schlögel: Ich bin ja ein Friedenskind, ich habe keine Ahnung, was ein Krieg ist, ich kenne das nur aus der Tagesschau, aus der Zeitung. Ich glaube aber, dass der Krieg dort, wo es um Leben und Tod geht, eine gravierende und existenzielle Erfahrung für ganze Generationen war, die nachzuvollziehen auch für Historiker ex post fast unmöglich ist. Der Krieg produziert eine völlig andere Haltung gegenüber der Wirklichkeit, möglicherweise auch mit apokalyptischen Erwartungen und Horizonten, mit utopischen Antrieben.

Woher sonst erklärt sich die Kraft der revolutionären Bewegung? Nicht weil Lenin ein geschickter Agitator war, sondern weil es den Leuten ein elementares Bedürfnis war, mit dem Krieg aufzuhören. Die große Vereinfachung und Brutalisierung im Krieg ist für uns sehr schwer nachvollziehbar. Der russische Bürgerkrieg ist so ein Schauplatz des Gewöhnlichwerdens des Abschlachtens, von 1914 bis 1921, 1922 war das Abschlachten Alltag. Und es war unmöglich, aus dem Krieg wieder in die Normalität überzugehen. Das Treiben dieser nicht regulären Truppen, diese Bürgerkriegshelden, die ganze Generation, die in den Stalinismus hineingegangen ist, das waren alles Bürgerkriegsleute. Was in den Dörfern bei der Kollektivierung passierte, das war business as usual.

Blom: In Bezug auf die russische Revolution: Wie viele dieser Berufsrevolutionäre waren Gangster, und wie viele waren Idealisten?

Schlögel: Also, ich kann das nicht prozentuell sagen, man müsste sich diese ganzen Biografien vor Augen führen, da gibt es diese Idealisten, die nicht in der Lage waren, einem Hahn den Kopf abzuschlagen, die dann aber doch im Getriebe der Entscheidungen, die zu fällen waren, mitgemacht haben. Die scharfe Trennung zwischen den Reinen und den Unreinen löst sich auf. Für viele in diesem Fußvolk war der Krieg das große Karrierekatapult, man konnte zeigen, wie man befiehlt, wie man einen Stoßtrupp zusammenstellt. Die Leute mit diesen Fähigkeiten waren fast prädestiniert für das Personal der späteren totalitären Herrschaft.

Alle diese Biografien sind ganz unglaublich, und wenn man tausende von ihnen hätte, könnte man ein seelisches oder personales Panorama erstellen. Das ist im Übrigen auch der Punkt bei der Rede vom "neuen Menschen" , dieser Utopie des marxistisch gefassten Renaissancemenschen, der am Morgen Ackerbau macht oder angeln geht und am Abend liest, der allseits gebildete und kultivierte und trainierte Mensch. Der neue Mensch, der zwischen 1914 und den 30ern geboren wird, der geht aus diesen Stahlgewittern, diesen Bürgerkriegsschlachten hervor. Es wäre sehr wichtig, wenn man die intellektuellen Diskurse über das Erziehungswesen, das Gefängniswesen, das Schulwesen, wenn man die auf diese Prozesse beziehen würde.

Standard: In Österreich wäre ja die Geschichte der Ersten Republik auch nicht zu verstehen, wenn man sie nicht auch als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg lesen würde: die erzieherischen Reformbestrebungen, Otto Glöckel, das rote Wien, der Karl-Marx-Hof ...

Schlögel: Der Karl-Marx-Hof und vergleichbare Dinge, das sind die glücklicheren Momente der Moderne. Es gibt manchmal glückliche Konstellationen, wie etwa beim Karl-Marx-Hof ein sozialdemokratisch ziviler Umgang mit Gesellschaft. Vieles, was in Europa in den 20er-Jahren an Positivem passiert ist, ob das in Köln war oder in Rotterdam oder Berlin, also, wenn wir das nicht hätten, dann könnten wir einfach einpacken, dann wäre alles so düster und hoffnungslos.

Man könnte noch andere Beispiele für großartige Dinge anführen, die moderne Musik etwa, alles, was damit zu tun hat, dass ein alter Zustand beendet wurde, ein Ancien Régime weg war. Wir haben nur über das Negative gesprochen, aber das Moderne, das sich durchgesetzt hat, hat seine eigene Legitimität. Die Frage ist nur: Warum war diese Moderne nicht so stark, dass sie dem widerstand, was dann gekommen ist und was viel schrecklicher war als der Erste Weltkrieg ...

Blom: Aber der Zweite Weltkrieg war ja doch auch ein Aspekt der Moderne. Sein Charakteristikum war doch, dass mit modernen Mitteln ein atavistisches Weltbild verfolgt wurde,

Schlögel: Das sind sehr delikate und schwierige Fragen, wie man die modernistischen Anteile in den Antrieben des Nationalsozialismus und des Kommunismus herausfiltert, das ist eine große und wichtige Debatte. Ich versuche dieser Frage so beizukommen, dass ich die Elemente, so wie sie da sind, beschreibe und unversöhnt nebeneinander stehen lasse. Das ist in den Dreißigerjahren in Moskau das geplante Massaker im Jahr 1937 neben der Öffnung der Ausstellungspavillons, oder die Inthronisierung eines Kulturheroen wie Puschkin steht neben den Chefs der Geheimpolizei, Eisenstein und Schostakowitsch und Jazz stehen neben den Aufmärschen, die Stalin preisen ... ich kann es nicht nach der einen oder anderen Seite hin auflösen, diese Elemente waren einfach da. Historiker können nicht mehr tun, als zu versuchen, die Zeit zu vergegenwärtigen. Synthetische, überbietende Interpretation, einen guten Schluss daraus zu ziehen, das kann ich nicht.

Blom: Ich habe den Eindruck, dass man in den 1920ern in einer Hinsicht noch nicht heraus war aus dem 19. Jahrhundert: Immer noch wurde ein Ideal der absoluten Machbarkeit verfolgt. Es wurde die Idee der technologischen Moderne des späten 19. Jahrhunderts fortgeschrieben: Wir können alles, die Wissenschaft wird auf alles Antworten finden. Heute würde niemand mehr denken, dass es die eine große Lösung für alles gibt.

Schlögel: Wir sind als Nachgeborene immer belehrt und durch das Privileg des Nachgeborenseins im Vorteil. Insofern können wir Grenzen sehen, die andere noch nicht sehen konnten. Es gab Projekte, die im Nachhinein als größenwahnsinnig erschienen, aber die für ihre Zeit völlig auf der Agenda waren. Wenn ich mir die großen Kanalbauten in Russland und in Amerika ansehe, das waren Projekte, über die man viele Jahrhunderte nachgedacht hatte, und dann glaubte man, die technischen und humanen Ressourcen zu haben. Tennessee Valley, der Hoover Dam, da hatte man den Wind im Rücken, die finanziellen Mittel der staatlichen Planung, den großen Plan, der ja überhaupt ein zentraler Fetisch des 20. Jahrhunderts war. Ich persönlich bin beeindruckt von der Großartigkeit solcher Perspektiven. Ich bewundere den Eisenbahnbau in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, die großen Infrastrukturprojekte, die die Städte zu dem gemacht haben, was sie heute sind, Wien, Budapest, Berlin, Chicago ... das wäre ohne Initiativen, die nicht von Legislaturperioden abhängen, unmöglich gewesen. Die Stadtväter und Landesväter und Landesmütter hatten einen ganz anderen Horizont. Die Eisenbahnprojekte, die Hafenanlagen, alles, wovon wir bis heute zehren ... ich wundere mich, dass Europa die Kraft hatte, solche Dinge zu machen ...

Blom: Eine Kraft, die es verloren zu haben scheint.

Schlögel: Ja. Und ich wundere mich auch, warum Europa nach 1989 nicht naheliegende Dinge im großen Stil durchgesetzt hat, etwa die Integration des Verkehrs und des Kommunikationsraums in Europa über den Eisernen Vorhang hinweg. Heute fährt man von Berlin nach Breslau sechs Stunden, vor 1939 fuhr man drei Stunden zwanzig Minuten: Es ist bedauerlich, dass solche Dinge nicht funktioniert haben und stattdessen die Intelligenz der Gestaltung auf Nebenschauplätze abgedrängt wurde, auf die Nato zum Beispiel.

Blom: Es ist nicht nur das. Damals wurde Zukunft gestaltet, heute wird sie hauptberuflich verhindert. Wo die meiste Energie reingesteckt wird, ist Änderungen zu verhindern, weil Veränderung nur Verschlechterung sein kann. Um Gottes willen keine Zukunft! Ich glaube, diese Haltung drückt sich gerade in Europa sehr stark aus. Die Integration findet nicht statt, gerade in Europa nicht.

Schlögel: Ja und nein. Wahrscheinlich hat man von den großen Visionen genug gehabt, und es gibt natürlich eine Trägheit der Wahrung der Besitzstände. Ich meine aber doch, dass sich etwas tut, und zwar das, was ich "Kriechströme" nenne und denen ich seit zwanzig Jahren folge. Die begründen meine Zuversicht für Europa. Die Kriechströme kann jeder beobachten, der mit dem Billigflieger unterwegs ist, die Züge und Busse zwischen Wien und Sarajewo oder Berlin und Posen, dieses riesige Netz, das den Eindruck vermittelt, dass Europa eigentlich viel weiter ist als das, was in den Korridoren in Brüssel verhandelt wird. Ich meine die Hunderttausenden, die unterwegs gewesen sind in den 90er- Jahren, die Basare, die Shoppingtouristen ... Auch der Tourismus hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine ungeheure Rolle gespielt in der mentalen Öffnung. Dieses Gewusel, dieses Muddling Through, dieses Irgendwie-Zurechtkommen, das bewundere ich. Das ist für mich der Sockel der europäischen Einigung.

Standard: Glauben Sie, dass wir in Europa durch diese zivilisatorischen Wirkungen der "Kriechströme" , wie Sie das nennen, vor Rückfällen in nationalistische Katastrophen gefeit sind?

Schlögel: Abermals ja und nein. Man hat 1914 auch geglaubt, dass der Nordexpress, der von Lissabon nach Petersburg fuhr, künftige Kriege unmöglich machen würde. Wenn man die Memoiren von Stefan Zweig liest, der von Ostende zurück nach Wien fuhr: Die konnten sich alle überhaupt nicht vorstellen, was da heraufkam.

Ich würde prinzipiell die These aufrechterhalten: Alles ist möglich. Es gibt keinen Automatismus, der sagt: Durch dieses Maß an intensiver Vernetzung sind wir gefeit gegen einen Absturz. Aber ich glaube, dass es molekulare Verdichtungen gibt, die stärker sind als vor 100 Jahren, die gan-ze Arbeitsmigration, die Polen-Bewegung ins Ruhrgebiet, das ist qualitativ etwas Neues. Bei allem Gerede über die Krise des Euro: Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Leute, denen ich begegne oder die ich analytisch beobachte, dass die zurückgehen würden in einen Zustand quo ante, mit Grenze und Währung.

Selbst die Leute, die es hart getroffen hat und die viel zu tun hatten mit der Umorganisierung ihres Lebens in den vergangenen zwanzig Jahren, die bleiben dabei, die fahren von Lemberg an die Alicante zum Weintraubenpflücken und schicken das Geld zurück und bauen ein Haus in Lemberg. Oder die Ärztin aus Siebenbürgen, die in Mailand in einem Sanatorium für alte Leute arbeitet und ihre Familie zu Hause finanziell gleichsam aufrüstet. Ich würde mir wünschen, dass man sich in den Korridoren von Brüssel dieses Potenzials an stummen Helden im Abseits noch mehr vergewissert.

Blom: Wenn ich Sie recht verstehe, ist diese molekulare Bewegung insofern wichtig - man muss mit historischen Parallelen immer vorsichtig sein -, als wir mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Delegitimierung ganzer Systeme gemeinsam haben: Das Finanzsystem, die Demokratie, Europa ... Natürlich war die ökonomische Krise damals viel ärger, und meine Frage lautet: Ist das, was uns heute von dieser Situation unterscheidet, nur der Umstand, dass wir den Geldpolster haben, der uns abpolstert von Momenten der Anarchie und des Bürgerkriegs, oder ist durch diese molekularen Bewegungen tatsächlich ein anderes Bewusstsein entstanden?

Schlögel: Ich glaube das zweite. Es gibt einen Zuwachs an Reserve, an Skepsis und Widerstandskraft gegenüber dieser Vorstellung des kurzen Prozesses. Es gibt einen Zuwachs an Zivilität, einen Reifungsvorgang, dass wir uns bestimmte Sachen nicht mehr erlauben können. Ich bin auch zuversichtlich, weil es in den letzten zwanzig Jahren einen kontrollierten Umbau gegeben hat, bei dem die Gesellschaften nicht ihre Nerven verloren haben, außer in Jugoslawien, wo man es am wenigsten erwartet hatte, oder im Kaukasus.

Europa hat diesen Übergang vom einen Zustand im Osten zum anderen ziemlich gut hingekriegt. Ich habe auch keine Antwort auf die Finanzkrise, aber ich würde sagen: "Die Nerven behalten" ist eine der Hauptlehren aus dem 20. Jahrhundert. (Christoph Winder/DER STANDARD, Printausgabe, 12. 11. 2011)