Jura Soyfer vor dem  Karl-Marx-Hof: ein Bild, das die Wiener Malerin Elke Schönberger eigens für den von Herbert Arlt herausgegebenen Sammelband gemalt hat

Foto: INST-Verlag

In seinem Stück "Astoria" nahm er 1937 die Finanzkrise des Jahres 2008 vorweg. Mit weltweit vernetzten Aktivitäten wird der vielgelobte Autor Jura Soyfer zum Mentor einer "Globalisierung mit humanem Gesicht".

Wien - Jura Soyfer, das Genie. In seinem Sprachwitz, seinem Sarkasmus, seinem Tief- und Weitblick angesiedelt zwischen Nestroy und Brecht. Der linke Schriftsteller ostjüdischer Herkunft, der in der Zwischenkriegszeit in Österreich und weit darüber hinaus ein Millionenpublikum erreichte, ist in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt worden. Seine wenigen erhaltenen Stücke werden wieder aufgeführt, in Wien ist ein Theater nach ihm benannt.

Eine Gesellschaft, die ebenfalls seinen Namen trägt, versteht sich nicht in erster Linie als Verwalterin des Erbes von Soyfer, der von den Nazis eingesperrt wurde und mit 26 Jahren im KZ umkam. Sie will sein Werk in einem dynamischen Prozess weltweit nicht nur unter die Leut', sondern selbige zum Nachdenken und eigenverantwortlichen Handeln bringen - ganz im Sinn des Autors.

Viele Welten - eine Welt

Soyfer zählt zu den wenigen österreichischen Schriftstellern ("österreichisch" wohl in einer weit über das Nationale hinausgehenden Bedeutung), die in rund 50 Sprachen übersetzt wurden. Paradigmatisch für sein Werk, von dem vieles verschollen ist, steht sein "Vagabundenlied". Es stammt aus dem Stück "Astoria", das am 27. März 1937 in Wien uraufgeführt wurde. Unter der behutsamen Regie von Herbert Arlt, dem wissenschaftlichen Direktor der Jura Soyfer Gesellschaft, wurde das Vagabundenlied in einem weltweit vernetzten Prozess in 32 Sprachen übersetzt. Aber eben nicht nur übersetzt, sondern in die jeweilige Vorstellungswelt übertragen.

Unter anderem als Dokumentation dieses Prozesses hat Arlt als Herausgeber das Werk "Jura Soyfer und die alte Welt" zusammengestellt. Das Buch wurde am Mittwoch (9.12., einen Tag nach Soyfers 97. Geburtstag) in Wien bei einem großen Jura-Soyfer-Abend vorgestellt. Otto Tausig, jüngst mit dem Nestroy-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet, las aus "Astoria". Tausig zählt zu den Veteranen der Soyfer-Fangemeinde. Er begann im englischen Exil, Texte Soyfers zu sammeln, und brachte einige davon vor 1945 in London auf die Bühne, darunter "Vineta" (1937 entstanden): eine Warnung vor dem Krieg und vor Illusionen, die geschaffen werden, um Menschen zu beherrschen.

Suchen, infrage stellen

Was ist das Besondere am "Vagabundenlied" und seinen Übersetzungen? Soyfer versteht den Vagabunden nicht in einem abwertenden Sinn, betont Herbert Arlt. Also nicht als Streuner und Taugenichts, sondern, in der Tradition von François Villon und Bertolt Brecht, als armen, suchenden Intellektuellen, als Infrage-Steller und Grenzüberschreiter. Zu den Vagabunden des 21. Jahrhunderts zählen auch die Migranten.

Das machte es auch so spannend, das Lied in andere Sprachen und also Kulturen zu übertragen, darunter in Chinesisch, Georgisch, Arabisch. Oder Kabardinisch. Oder Balkarisch.

"Die Vielfalt der Übersetzungen ist mit einer Vielfalt an Geschichten über Menschen verbunden, die sich weltweit beteiligt haben", berichtet der Wissenschafter weiter. "Geschichten des Widerstandes, aber auch der Träume, des Aufbruchs. Mit diesen Geschichten ist es möglich, ein wenig von der Globalisierung mit humanem Gesicht zu erzählen."

Dazu eine E-Mail von Chinarbubu Tuleeva, der Übersetzerin ins Kirgisische: "Das ,Vagabundenlied' ist eine Art Epigramm zum Stück ,Astoria' von Jura Soyfer. Es beinhaltet kurz und bündig das Drama von Menschen, die künstlich um sich herum das bauen und bilden, was unreal ist. Aber das unreale Land ,Astoria' ist ein Traum von denen, die so leben wollen und nichts beitragen, nichts leisten wollen oder können. Real ist der Vagabund mit seinen Sorgen, seinen Leiden. Das ,himmlische' Leben ist weit und hoch; es gibt keine Leiter, mittels deren man den 'Himmel' erreichen könnte ..."

Mit "Astoria" hat Soyfer die Spekulationsblasen der vergangenen Jahre vorweggenommen. Es geht um erfundenes, also real nicht vorhandenes Erdöl, mit dem den Bürgern Geld entlockt wird. Sie investieren in eine Schein-Wirtschaft in einem Schein-Staat, in eine künstliche Blase also. Reaktion eines Protagonisten auf den Einwand, dass Erdöl doch schmutzig sei: "Na, hören Sie! Was gibt es Hygienischeres als Börsenmanöver?"

Künstliche Werte

Sinnbilder künstlicher Werte, die keine Entsprechung in der Realwirtschaft haben, sind für Herbert Arlt auch Brokat und Dukat im "Vagabundenlied". Damit beweise der "Mythos Markt" seine Irrealität. An eine Blase kann man keine Leiter stellen, könnte man als Fußnote anfügen. (Josef Kirchengast / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8.12.2009/red)