Chronik des realen Absurden
Es ist die Kombination von Bild und Text, die den Reiz dieses Buches ausmacht. Und vermutlich auch die Person des Fotografen. Manfred Uhlenhut hat unter anderem für das DDR-Fernsehen gearbeitet. Was mag er wohl empfunden haben, als er das Ende des Staates dokumentierte, der ihm gewiss nicht verhasst war? In Verbindung mit Berichten und Äußerungen von Akteuren und Zeitzeugen entfalten die Bilder jedenfalls ihre besondere Wirkung, die oft ins Absurde, Groteske, Surreale reicht. "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen", sagte DDR-Parteichef Egon Krenz auf einer Kundgebung am 10. November 1989 - drei Wochen vor seinem Rücktritt. Und daneben das Bild von einem verlorenen Schuh im Niemandsland vor der Mauer. (Josef Kirchengast)
Manfred Uhlenhut (Fotos), "Als die Mauer fiel". € 20,60 / 96 Seiten. Knesebeck, München 2009

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Revolution im Rückblick
Mit einem Spaziergang am Morgen des 4. November 1989 im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg beginnt Paul Schulmeister, der langjährige Deutschlandkorrespondent des ORF, sein Buch über die "Wende-Zeiten". Es war der Tag der großen Demonstration in der Hauptstadt der DDR, fünf Tage vor dem Mauerfall. Doch das war an diesem Morgen noch längst nicht absehbar. Gegen die Vorstellung von der "Unvermeidlichkeit" der Geschichte hat Schulmeister dieses Buch geschrieben. Er schildert Schlüsselsituationen mit zunächst ungewissem Ausgang, die er selbst erlebt hat oder zu denen er kompetente Interviewpartner aus heutiger Sicht befragte, darunter Wolfgang Schäuble und Horst Teltschik, den damaligen Berater Helmut Kohls. (Erhard Stackl)
Paul Schulmeister, "Wende-Zeiten". € 21,90 / 270 Seiten. Residenz, St. Pölten/Salzburg 2009

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Das glücklichste Volk der Welt
Am Tag, als die Mauer fiel, waren die Deutschten das glücklichste Volk der Welt, schrieb der Kölner Verleger Alfred Neven DuMont im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band "Mein 9. November. Das Buch, ein Oral History-Projekt", versammelt Zeugnisse von 27 Menschen, die alle am 9. November, dem Tag des Mauerfalls, geboren wurden. Die Geburtstagskinder stammen aus unterschiedlichsten Gegenden und Berufen; einige sind wohl bekannt wie der Schauspieler Martin Schwab oder der Politiker Björn Engholm. Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher regt in einer Nachbemerkung an, den Mauerfall als Inspiration für eine globale Verantwortungspolitik zu verstehen: "Wir leben weltweit so eng zusammen wie nie zuvor." (Christoph Winder)
Alfred Neven DuMont (Hg.), "Mein 9. November. Der Tag, an dem die Mauer fiel". € 19,95 / 216 Seiten. DuMont, Köln 2009

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Erinnern für eine gute Zukunft
Ein Offizier der Nationalen Volksarmee salutiert am 13. November mitten in Berlin vor mir, als wäre es das Normalste der Welt, heißt es, noch nachträglich verwundert, in einer Fotolegende in Der Weg zur Einheit, einem Erinnerungsband von Richard von Weizsäcker. Der deutsche Ex-Präsident (von 1984 bis 1994) hält Rückschau auf die Geschehnisse des November 1989 und nimmt seine Erinnerungen darüber hinaus zum Anlass, die deutsche Geschichte von 1945 an bis zur unmittelbaren Gegenwart Revue passieren zu lassen: "Gute Zukunft braucht klare Erinnerung." Als Gegengift zum deutschen Nationalismus und seinen fatalen historischen Folgen sieht von Weizsäcker das Engagement in der EU: "Wir suchen die Nation in Europa." (Christoph Winder)
Richard von Weizsäcker, "Mein Weg zur Einheit". € 19.90 / 223 Seiten. C.H. Beck, München 2009

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Über Grenzen und Hunde
Taugt Ideologie als Disziplinierungsmodell? Wie totalitär ist das deutsche Geschichtsbild nach dem Mauerfall? Hängt die fortdauernde Krise der Linken mit 1989 zusammen? Ist die Situation im heutigen China vergleichbar mit der osteuropäischen vor 20 Jahren? Und literarischer: Wie ist es nun genau, das Verhältnis zwischen Herr und Hund beziehungsweise zwischen Herr und Knecht. Antwortversuche auf diese Fragen plus Thesen und Essays zum Themenkomplex Dilemma 89 sind in der aktuellen Nummer der Zeitschrift Wespennest nachzulesen (Autoren u._a.: Daniela Dahn, Wolfgang Müller-Funk, Thomas Venclova und Slavenka Drakuliæ). Ein sehr empfehlenswerter Um- und Ausblick, der weit über die deutsch-deutsche Grenze reicht. (Stefan Gmünder)
Wespennest, "Dilemma 89" (Heft 156). € 12,- / 104 Seiten. Wien 2009

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Wie es Prags_KP-Bonzen sahen
In diesem Band mit wissenschaftlichen Beiträgen über Vorgeschichte und Verlauf der "Samtenen Revolution", die sich im November und Dezember 1989 in der damaligen ÈSSR abgespielt hat, sticht einer heraus. Hohe KP-Funktionäre von damals sprechen darüber, was ihrer Meinung nach zum Kollaps des Systems führte: unzureichende Reaktion auf geänderte Umstände (Gorbatschow!) und Flügelkämpfe in der Partei um die Nachfolge Gustáv Husáks. Reformfreudigere Kommunisten hätten dabei auch mit der Staats_sicherheit konspiriert. Deren Chef Alojz Lorenc wird an anderer Stelle verdächtigt, den brutalen Polizeieinsatz gegen eine Studentendemo am 17. November 1989 in Prag angeordnet zu haben, um die Parteispitze zu diskreditieren. (Erhard Stackl)
Perzi/Blehova/Bachmaier (Hg.), "Die Samtene Revolution". € 58,10 / 324 Seiten. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009

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Nach dem Aufbruch ratlos
Als "Aufbruch" und als ein "zentrales Ereignis" des 20. Jahrhunderts hat ORF-Journalist Peter Fritz den Mauerfall als junger Redakteur in Berlin selbst erlebt. In seinem Buch beschreibt er, warum die damalige Bundesregierung von Helmut Kohl (CDU) die Einheit danach so schnell vorantrieb und staunt über die Biografien der Ostdeutschen: Fast alle von ihnen, konstatiert er, hatten zwei Leben: eines vor dem Mauerfall und eines danach. Fritz, der heute als ORF-Büroleiter wieder in Berlin arbeitet, schlägt auch den Bogen ins Deutschland von 2009 und sieht die Deutschen ratlos: Finanzkrise, Pensionsfragen, ihre Stellung in der Welt. 20 Jahre nach dem Mauerfall und 60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik hat Europas größte Wirtschaft erneut große Probleme zu lösen. (Birgit Baumann)
Peter Fritz, "Der ratlose Riese". 22,95 €/208 Seiten. Ueberreuter 2009

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Das Ende einer deutschen Partei
Das Jahr 1989 war auch der Anfang vom - relativ rasanten - Ende der Staatspartei SED, die die Geschicke der DDR seit 1949 dirigiert hatte: Der Historiker Andreas Malycha und Ex-FAZ-Redakteur Peter Jochen Winters haben die Geschichte der "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" von den Gründungsvätern (Ulbricht, Grotewohl, Pieck) bis zu den letzten Mohikanern (Honecker, Krenz) verfolgt. Naturgemäß spielt das Vorbild der SED, die "Schwesterpartei" KPdSU, eine wichtige Rolle. Ob sich die PDS/Die Linke in Zukunft zu einer stabilen demokratischen Linkspartei entwickeln kann, meinen die Autoren, werde in erster Linie von ihrem Umgang mit der SED-Vergangenheit abhängen. (Christoph Winder)
Andreas Malycha, Peter Jochen Winters, "Die SED. Geschichte einer deutschen Partei". € 18,00 / 480 Seiten. C.H. Beck, München 2009

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Intimes Zeugnis der Wende
Dieser Fotoband ist sicher ein sehr intimes Zeugnis der Wende. Diese Geschichten aus einem vergangenen Land ermöglichen durch ganz persönliche Sichtweisen einen authentischen Blick auf Ostdeutschland. Die 1990 gegründete und heute renommierte Fotoagentur Ostkreuz präsentiert aus ihren Beständen erstklassige Fotoserien der besten DDR-Chronisten (Sibylle Bergemann, Werner Mahler, Harald Hauswald u._a.) über Menschen, Moden und Lebensentwürfe im DDR-Alltag. Wunderbar ergänzt werden diese Bild-Geschichten durch die auch sehr persönlichen Erzählungen von begnadeten Schreibern aus dem damaligen Osten wie Alexander Osang, Ingo Schulze oder Marcus Jauer - über verpassten Mauerfall, Fluchtträume und die Rückkehr in die Gegenwart. (Mia Eidlhuber)
Ostkreuz, "Ostzeit", € 39,80 / 304 S. Hatje Cantz 2009

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Biografie einer Halbstadt
Stadtbiografien gibt es nicht wenige, "Halbstadtbiografien" sind seltener. Wilfried Rotts Buch Die Insel ist eine solche: Auf über 450 Seiten schildert Rott, Ex-Redakteur beim Sender Freies Berlin und Kolumnist der FAZ und Welt, die bizarre Geschichte, den seltsamen politischen Status und das partikuläre Kulturleben Westberlins von 1948 bis 1990. Rott hat das Buch auch aus persönlicher Betroffenheit geschrieben: darüber, dass die Erinnerung an die "Insel" Westberlin, das "dritte Deutschland", das weder Bundesrepublik war noch DDR, zunehmend verlorengeht. Aber, so resümiert Rott am Ende seiner detailreichen Darstellung, "Geschichte vergeht nicht mit denen, die Teil von ihr waren, schon gar nicht im Fall von Westberlin." (Christoph Winder)
Wilfried Rott, "Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins. 1948-1990". € 25,00 /478 Seiten. C. H. Beck, München 2009

(Der Standard/Album/26./27.9.2009)

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