Kirche Schule Beten Matura
Hilft beten? Den Unterrichtsstoff lernen nützt sicher.
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In seinem religionspädagogischen Ratgeber When Children Ask About God spricht sich der im Vorjahr verstorbene US-amerikanische Rabbiner und Bestsellerautor Harold S. Kushner nachdrücklich dagegen aus, Kindern Gottesvorstellungen zu vermitteln, die Gott als allmächtige Elternfigur über oder außerhalb der Welt darstellen. Gott sei kein transzendenter Supermann, der alles überwache und ständig ins irdische Geschehen eingreife. "Mir ist ein frommes Kinderbuch untergekommen", verdeutlicht Kushner sein Verdikt, "in dem tatsächlich behauptet wird, Gott werde dafür sorgen, dass man eine Straße sicher und unverletzt überquert, wenn man vorher ein Gebet gesprochen hat."

Boxen und beten

Anschließend illustriert Kushner ein solch magisches Missverstehen von Religion anhand folgender Geschichte: Ein Rabbiner schaut sich auf Einladung eines katholischen Priesters zum ersten Mal einen Boxkampf an. Der Priester, ein Aficionado des Boxsports, kommentiert das laufende Geschehen. Irgendwann einmal, kurz bevor die Glocke die nächste Runde einläutet, bekreuzigt sich einer der beiden Boxer. Der interreligiös unbedarfte Rabbiner fragt den Priester, was diese Handbewegung denn bedeute. Dieser antwortet kurz und bündig: "Wenn man nicht kämpfen kann, bedeutet sie nichts."

Die Aussage des Priesters weist darauf hin, dass religiöse Rituale keine magischen Kräfte verleihen, die natürliche Begrenzungen auf mirakulöse Weise aufheben. Hat sich ein Boxer auf einen Kampf zu wenig vorbereitet oder am Vorabend zu viel Alkohol getrunken, wird kein Gott ihn retten. Das Gleiche gilt für Schülerinnen und Schüler, die zur Matura antreten.

Hilfe von oben

Das Projekt "Be Blessed" ("Sei gesegnet"), mit dem die katholische und die evangelische Kirche Maturierenden den christlichen Glauben als praktische Lebenshilfe offerieren, bewegt sich im Grenzbereich magischen Denkens. Die kirchliche Aktion bietet den Prüflingen ein Segensgebet an, das ihnen von einer kirchlichen VIP auf digitalem Weg übermittelt wird. Dazu gibt es eine Kerze, die in einer Kirche entzündet wird. Die Initiative verspricht, dass diese Rituale "himmlischen Beistand" und "eine Extraportion Ermutigung und Segen von oben" gewährten (siehe "'Himmlischer Beistand' und Segen per Whatsapp für die Matura", 16.4.2024).

Freilich behaupten die für das Projekt Verantwortlichen nicht, Segensgebet und Kerze würden das Lernen für die Matura völlig überflüssig machen. Beide Rituale werden vielmehr als transzendente Booster zur Optimierung der Performance charakterisiert. Einer der Segensübermittler, der bei kirchlichen PR-Initiativen unvermeidliche Dompfarrer Toni Faber, erklärte, dass das Vertrauen auf Gottes Hilfe dazu verhelfen werde, alles Erlernte und Erworbene bei den Prüfungen gut abzurufen. Immerhin.

Die Not beseitigen

Es sei dahingestellt, ob man junge Menschen mit einer derart veralteten Theologie ansprechen kann. Zahlreiche jüngere, aber auch ältere Menschen, darunter ich selbst, würden es dagegen sehr begrüßen, wenn sich die Kirchen stattdessen für die Abschaffung einer pädagogisch so unsinnigen Tortur wie der obrigkeitlich verordneten Matura einsetzten. Not mag beten lehren. Die christliche Ethik aber fordert, die Ursachen menschlicher Not zu beseitigen. Und zu diesen zählt zweifellos auch die Matura. (Kurt Remele, 29.4.2024)