Im schottischen Edinburgh gab Humza Yousaf bekannt, dass er zurücktritt.
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Der schottische Nationalismus steckt in einer schweren Krise. Nach nur 13-monatiger Amtszeit und vier Tage nach seiner Aufkündigung der Koalition mit den Grünen ist Ministerpräsident Humza Yousaf am Montag zurückgetreten. Er habe den Ärger über seine überraschende Entscheidung unterschätzt, räumte der 39-Jährige in Edinburgh ein: "In der Politik ist Vertrauen natürlich von fundamentaler Bedeutung." Weil seine Nationalpartei SNP zur Fortführung der Regierung auf andere Parteien angewiesen ist, mache er den Weg frei, damit "andere unser Verhältnis in Ordnung bringen".

Für Yousafs Nachfolge werden in Edinburgh vor allem die Namen Kate Forbes, Angus Robertson und John Swinney genannt. Sollte die sozial-konservative Ex-Finanzministerin Forbes das Rennen machen, würde die SNP einräumen, dass sie vor Jahresfrist einen schweren Fehler begangen hat: Im Rennen um die Nachfolge der langjährigen Partei- und Regierungschefin Nicola Sturgeon unterlag die erst 34-Jährige ihrem Rivalen Yousaf knapp mit 48 zu 52 Prozent. Der international erfahrene Kultur- und Verfassungsminister Robertson hatte im Vorjahr mit Blick auf seine kleinen Kinder seinen Verzicht erklärt – insofern käme eine Kandidatur zum jetzigen Zeitpunkt überraschend.

Labour fordert Neuwahlen

Hingegen propagieren Parteigrößen den langjährigen früheren Vize-Regierungschef Swinney. Der 60-Jährige war zu Beginn des Jahrhunderts vier Jahre lang glückloser Parteichef, diente dann den SNP-Regierungschefs Alex Salmond und Sturgeon treu in den Ressorts Finanzen und Bildung. "Er ist ruhig und besonnen, aber nicht erfolgreich in den Ergebnissen seiner Politik", urteilt der deutsche Soziologe Jan Eichhorn von der Uni Edinburgh. Sollte die Nachfolge auf Swinney zulaufen, "wäre das ein Eingeständnis des Versagens als Partei".

Unmittelbar nach Yousafs zehnminütiger Ansprache erneuerte die oppositionelle Labour Party ihre Forderung nach Neuwahlen. Die SNP dürfe nicht zum zweiten Mal in der laufenden Legislaturperiode darüber entscheiden, wer die Regierung anführt, argumentierte Labours Regionalchef Anas Sarwar. "Das schottische Volk sollte diese Entscheidung treffen. Wir brauchen eine Veränderung."

Um dies zu erreichen, hatten zunächst die Konservativen vergangene Woche einen Misstrauensantrag gegen Yousaf persönlich eingereicht. Tags darauf zog Labour mit dem Antrag nach, der gesamten Regierung das Vertrauen zu entziehen. Ob diese Abstimmungen nun wie geplant diese Woche steigen, blieb am Montag unklar. Im schottischen Parlament verfügt die SNP über 63 Abgeordnete, nur zwei weniger als die absolute Mandatsmehrheit.

Streben nach Unabhängigkeit

Die Nationalpartei führt die Regierungsgeschäfte in Edinburgh seit 2007 und dominierte mit dem Streben nach der Unabhängigkeit von London jahrelang die Politik der alten Nation im Norden der britischen Insel. Zwar stimmte bei der Volksabstimmung 2014 die Minderheit, nämlich 45 Prozent für die Unabhängigkeit.

Doch die SNP erlebte unter der charismatischen Parteichefin Sturgeon anschließend ein halbes Dutzend Wahlsiege in Folge. Daran konnte auch ein Strafprozess wegen Sexualdelikten gegen Ex-Regierungschef Salmond wenig ändern. Nach seinem Freispruch gründete dieser die an der Wahlurne erfolglose SNP-Konkurrentin Alba. Geschickt verstand es Sturgeon, die Schuld an den zunehmenden Schwierigkeiten bei Polizei, in Krankenhäusern und Schulen den in London regierenden Konservativen unter häufig wechselnden Premierministern zuzuschieben.

Nach Sturgeons Rücktritt wegen einer unappetitlichen Parteifinanz-Affäre – gegen ihren Ehemann wurde mittlerweile Anklage wegen Unterschlagung erhoben – erbte Yousaf deren Minikoalition mit den Grünen. Dieses Arrangement war dem sozial-konservativen SNP-Flügel ein Dorn im Auge. Umgekehrt ärgerten sich die Grünen darüber, dass in der Transgender-Politik, in der Frage der Unabhängigkeit sowie beim Klimaschutz zuletzt keine Fortschritte zu verzeichnen waren. Im Gegenteil: Vor zehn Tagen musste die zuständige Ministerin Mairi McAllan einräumen, man werde den Ausstoß klimaschädlicher Emissionen nicht wie geplant schon bis 2030 um 75 Prozent reduzieren: "Das können wir nicht erreichen."

"Schlechtester Ministerpräsident"

Frustriert riefen die Grünen einen Sonderparteitag ein. Anstatt dessen Entscheidung abzuwarten, notfalls die Kündigung der Koalition abzuwarten, trat Yousaf die Flucht nach vorn an und entließ die beiden grünen Staatssekretäre aus ihren Ämtern. Offenbar fehlte ihm jedes Gespür dafür, wie diese Maßnahme bei den Grünen selbst, im Parlament und in der Öffentlichkeit aufgenommen würde. Er habe, beteuerte der Regierungschef noch am Montag, die Zusammenarbeit mit den Grünen auf informeller Basis fortsetzen wollen.

Yousaf sei "ohne jeden Zweifel der schlechteste Ministerpräsident der vergangenen 25 Jahre" gewesen, schreibt der SNP-nahe Autor Gerry Hassan, der an der Fachhochschule Glasgow Caledonian lehrt, auf X, "womöglich ein schlechterer Regierungschef als Liz Truss", die Kurzzeit-Premierministerin des Vereinigten Königreichs 2022.

Anders als von den Unionisten erwünscht sei mit der Krise der SNP aber nicht die Frage der Unabhängigkeit vom Tisch. Tatsächlich haben sich zuletzt stets 45 bis 50 Prozent der Schotten für die Aufkündigung der 317 Jahre alten Union mit England ausgesprochen. (Sebastian Borger aus London, 29.4.2024)