Ein Computer-Rendering eines Proteins, das von links nach rechts immer größere Dreiecke bildet.
Das Enzym aus einem Cyanobakterium ordnet sich zu einem Sierpinski-Dreieck an, wie hier in einer Computervisualisierung zu sehen.
Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie/Hochberg

Die Natur kann zuweilen überraschend mathematisch sein. Menschen, die auf einen Bauernmarkt gehen, um Gemüse zu kaufen, werden dort mit einem faszinierenden Vertreter des Kohls konfrontiert. Der Romanesco besticht nicht nur durch hohen Vitamin-C-Gehalt, sondern bildet auch hypnotische Muster, bei denen einem schwindlig werden kann. Das Gefühl, sich darin zu verlieren, stammt von den Strukturen, die sich scheinbar bis ins Unendliche wiederholen. Muster mit dieser Eigenschaft werden in der Mathematik Fraktale genannt.

Fraktale treten nicht nur in der Biologie mannigfach auf, wo sie etwa in vielen Blattformen wiederzufinden sind, auch unbelebte Strukturen wie Schneeflocken oder Küstenlinien bilden oft fraktale Muster. Für die Praxis kann das relevant sein, wenn es etwa darum geht, die Länge einer Küstenlinie zu messen. Wie genau muss man hinsehen, um die richtige Länge zu bestimmen?

Im Gegensatz zu "echten" Fraktalen in der Mathematik setzt sich die fraktale Selbstähnlichkeit in der Natur allerdings nicht bis ins Unendliche fort. Nach oben hin liefert spätestens die Größe des Planeten eine unüberwindliche Grenze, zu kleineren Skalen hin sind es Strukturen wie Zellen oder Moleküle, die der Unendlichkeit im Weg stehen.

Ein Detail eines Romanesco-Kohls.
Der Romanesco gilt unter mathematisch interessierten Menschen als der schönste aller Vertreter des Kohls.
IMAGO/Pond5 Images

Molekulare Fraktale

Theoretisch wären fraktale Strukturen bis zu molekularer Ebene möglich. Allerdings konnten so kleine Fraktale bisher nicht beobachtet werden.

Bis jetzt. Nun machte nämlich ein Forschungsteam vom Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie im deutschen Marburg und der Universität Marburg eine einzigartige Entdeckung. Unter dem Mikroskop erblickte man etwas, das wie ein Sierpinski-Dreieck aussah. Davon berichtet eine neue Studie im Fachjournal "Nature".

Dieses 1915 vom polnischen Mathematiker Wacław Sierpiński beschriebene und nach ihm benannte Fraktal besteht aus Dreiecken, die annähernd in Form eines Kartenhauses aufeinandergeschichtet sind. Die mathematische Struktur hat einige überraschende Eigenschaften. Ihre Fläche beträgt beispielsweise null, weil sie ganz und gar aus Lücken besteht.

Das gilt natürlich nur für die Variante, die sich im Kleinen bis ins Unendliche fortsetzt. Eine zwingende Bedingung ist das nicht. Es gibt auch Sierpinski-Dreiecke, die nur zwei oder drei "Rekursionen" besitzen, in denen sich also die Dreiecksform nur in wenigen unterschiedlichen Größen wiederfinden lässt. Von einem solchen Sierpinski-Dreieck mit einer endlichen Anzahl von Rekursionen ist hier die Rede.

Schöne Lücken

"Wir sind ganz zufällig auf diese Struktur gestoßen und konnten es kaum glauben, als wir sie zum ersten Mal unter einem Elektronenmikroskop betrachteten", sagt Erstautorin Franziska Sendker. Aufgebaut ist sie aus einem bestimmten Enzym eines Cyanobakteriums, einer sogenannten Citrat-Synthase. Das ist ein urtümliches Stoffwechselmolekül, das bereits seit der Frühzeit in der Entwicklung des Lebens auf der Erde existiert.

"Das Protein bildet diese wunderschönen Dreiecke, und während das Fraktal wächst, sehen wir die immer größeren dreieckigen Lücken in der Mitte, was anders ist als jede Proteinanordnung, die wir je zuvor gesehen haben", berichtet Sendker.

Wie es passieren kann, dass Moleküle solche fraktalen Muster bilden, war unklar. Zwar sind Selbstorganisation und das Bilden komplexer Strukturen bei Molekülen nichts Neues, doch in der Regel läuft der Prozess sehr symmetrisch ab. Die Anordnung zu benachbarten Molekülen ist immer gleich. Von einer entfernten Perspektive aus betrachtet erscheint eine solche Struktur gleichförmig, ohne die typischen Lücken des Sierpinski-Dreiecks.

Diese Computeranimation nutzt neben dem Sierpinski-Dreieck weitere verwandte Fraktale wie den Sierpinski-Teppich.
Mehrdad Garousi

Grund für Fraktale

Um herauszufinden, warum sich dieses Molekül im Gegensatz zu allen anderen bekannten zu einem Fraktal anordnet, arbeitete das Team vom Max-Planck-Institut mit einer Gruppe für Strukturchemie von der Universität Marburg zusammen. Weitere Untersuchungen mit Elektronenmikroskopen brachten Klarheit.

"Dies war eine der schwierigsten, aber auch faszinierendsten Strukturen, die ich bislang gelöst habe", sagt Jan Schuller, der in die Bestimmung der Struktur involviert war. Das Problem sei gewesen, dass die klassischen Bildanalyse-Algorithmen von den Fraktalen in die Irre geführt wurden, sagt Schuller. "Diese wurden durch die Tatsache verwirrt, dass die kleineren Dreiecke Unterstrukturen größerer Dreiecke sein können. Der klassische Algorithmus konzentrierte sich auf diese kleineren Dreiecke, anstatt die größeren Strukturen zu sehen, zu denen sie gehörten."

Als Grund für die außergewöhnliche Eigenschaft des Moleküls ließ sich seine Tendenz ausmachen, je nach Position in der gesamten Struktur unterschiedliche Bindungen einzugehen. So ist es möglich, dass im Inneren Hohlräume bleiben, weil sich an dessen Rand keine weiteren Moleküle anlagern können.

Biologischer Grund

Es blieb die Frage, ob das Muster einen biologischen Zweck erfüllt. Für das Cyanobakterium schien es keinen Unterschied zu machen, ob die Citrat-Synthase-Moleküle in seinem Inneren als Sierpinski-Dreieck vorlagen oder nicht.

Um mehr darüber herauszufinden, unterband das Team durch gentechnische Veränderungen am Bakterium, dass die Citrat-Synthase sich zum Sierpinski-Fraktal anordnete. Auf das Wachstum der Zellen hatte das keinerlei Einfluss.

Evolutionäre Spurensuche

Doch evolutionär musste sich der sonderbare Effekt irgendwann etabliert haben. Um zu sehen, ob es sich um einen Zufall handelte oder ob damit vielleicht doch ein Vorteil einhergegangen war, bildete das Team im Labor die evolutionäre Entwicklung nach.

Dabei ließ sich belegen, dass eine plötzlich auftretende, geringe Anzahl von Mutationen in der Lage war, das Enzym mit der außergewöhnlichen Eigenschaft hervorzubringen. In verwandten Cyanobakterien ging die Eigenschaft schnell wieder verloren.

"Wir können nie ganz sicher sein, warum etwas in der Vergangenheit passiert ist. Doch in diesem Fall finden wir tatsächlich alle Merkmale eines evolutionären Zufalls: eine scheinbar komplexe biologische Struktur, die ohne guten Grund entstanden ist, einfach weil es einfach sehr einfach war, sie zu entwickeln", sagt Studienautor Georg Hochberg. Auch wenn der endgültige Beweis fehlt, macht das Hoffnung, weitere biologische Fraktale auf molekularer Ebene zu finden.

Beim Romanesco konnte das Rätsel zumindest teilweise gelöst werden. Dort sorgt eine Gen-Mutation für die besondere Form. (Reinhard Kleindl, 14.4.2024)