Australopithecus afarensis Lucy sieht in dieser Rekonstruktion ähnlich aus wie ein etwas weniger behaarter Schimpanse mit geraden Beinen. Sie steht im Museum an einer Treppe im Foyer, die Hände auf die Hüften und Oberschenkel gestützt. Besucherinnen und Besucher laufen verschwommen an ihr vorbei.
Lucy ist das wohl berühmteste Fossil. Rund um die Welt werden Rekonstruktionen ihres Aussehens in Museen ausgestellt, auch im Naturhistorischen Museum Wien. Auf diesem Foto sieht man eine Darstellung im Moesgaard-Museum im dänischen Aarhus.
Gerald Haenel / laif / picturedesk

Die Beatles schrieben sich nicht nur in die Musikgeschichte ein. Einer ihrer Songs sorgte sieben Jahre nach seinem Erscheinen dafür, dass die Wissenschaft der Paläoanthropologie nicht mehr dieselbe war: "Lucy in the Sky with Diamonds" erschallte 1974 in der Afar-Region in Äthiopien aus einem Kassettenrekorder. Das Forschungsteam feierte in Hadar einen Sensationsfund, nämlich das bis dahin älteste und erstaunlich gut erhaltene Skelett eines menschenähnlichen Primaten. Die Spezies war längst ausgestorben und ähnelt heute lebenden Menschen in manchen Eigenschaften auf verblüffende Weise.

Zelte am Ufer eines Flusses, im Hintergrund sieht man einige Bäume und dahinter eine karge Felslandschaft.
Das Camp in Hadar, Äthiopien. In dieser Gegend wurde Lucy gefunden.
Institute of Human Origins, Arizona State University

Wer genau anfing, den Fund "Lucy" zu nennen, ist nicht überliefert. Vielleicht war die Party dafür zu feuchtfröhlich. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte man ein solch weltbewegendes Fundstück auch "Helga" nennen können. Der Name Lucy trug aber dazu bei, dass diese entfernte Menschenverwandte unter Laiinnen und Laien so populär wurde.

Gerade Beine, kleines Gehirn

Davon ist zumindest der britische Anthropologe Richard Wood überzeugt. Während eines Symposiums zum 50. Jahrestag von Lucys Entdeckung am vergangenen Wochenende behauptete er bei seinem launigen Vortrag: Alles wäre anders gelaufen, wenn das Skelett etwa den Beinamen "Basil" bekommen hätte. "Ich finde, das hat nicht den gleichen Klang wie Lucy."

Schulkinder mit Mund-Nasen-Schutz in roten Schuluniformen beugen sich über eine Vitrine mit Lucys Knochen (beziehungsweise deren Imitate) und machen sich Notizen.
In ihrem Herkunftsland Äthiopien ist Lucy quasi die Mutter der Nation. Die fossilen Knochen befinden sich im Nationalmuseum in Addis Abeba.
Michael Tewelde/IMAGO/Xinhua

Ihre Entdeckung war revolutionär. Lucy gehört zur Art Australopithecus afarensis und lebte vor knapp 3,2 Millionen Jahren. Das vermutlich weibliche Skelett ist zu 40 Prozent erhalten und war mit nicht einmal 110 Zentimetern Körpergröße viel kleiner als ein ausgewachsener Mensch. Die Beine zeigten: Sie dürfte daran gewöhnt gewesen sein, aufrecht zu gehen – wie wir. Im Gegensatz dazu sind die Beine und Becken anderer Menschenaffen wie Schimpansen nicht an den aufrechten Gang angepasst.

Walking With Lucy | California Academy of Sciences
Die Animation zeigt, was Lucy mit heute lebenden Menschen und Schimpansen gemeinsam hatte.
California Academy of Sciences

Gleichzeitig hatte diese Spezies ein relativ kleines, affenartiges Gehirn. Die kräftigen Arme und gebogenen Finger lassen vermuten, dass sie ebenfalls gut in Bäumen klettern konnte. Das erzählen uns hunderte Vertreterinnen und Vertreter der Art, die bisher in Ostafrika gefunden wurden – eine reiche Ausbeute für den US-amerikanischen Paläoanthropologen Donald Johanson und seine Kollegen und Kolleginnen.

Urmutter oder Großtante?

Johanson war 31, als er Lucy in Hadar entdeckte. Die 70er-Jahre seien das goldene Zeitalter seines Fachs gewesen, sagte er bei dem Jubiläumssymposium, das an der Arizona State University in Tempe stattfand – zu ihr gehört das von Johanson gegründete Institute of Human Origins. Man kann von einer Zeit vor Lucy und nach Lucy sprechen, in der Forschung hat sich seitdem einiges verändert: "Heute beschäftigen wir uns zum Glück intensiver mit der Rolle der Frauen in den Ursprüngen des Menschen. Das ist eine große Veränderung gegenüber der Zeit vor Lucy, die sehr männerzentriert war."

Zwei junge, braunhaarige Männer sitzen unter einer Zeltplane an einem Tisch, aneinandergelegte Knochen vor sich liegend. Johanson hat einen Knochen in der Hand, Taieb einen Fotoapparat.
Donald Johanson (links) und der in Tunesien geborene Geologe Maurice Taieb beim Lucy-Knochenpuzzle 1974.
Institute of Human Origins, Arizona State University

Manche Fachleute vermuten, dass Lucy quasi die "Urmutter der Menschheit" war. Dann müssten sich die frühen Homo-Formen also aus Australopithecus afarensis oder anderen Arten dazwischen entwickelt haben. Davon geht auch Finder Don Johanson aus. Andere sehen in ihr eher eine entfernte Tante, weil es so viele Zweige im Stammbaum – oder, besser, Stammbusch – gibt.

Mehrere menschenähnliche Arten

Genau lässt sich das nicht sagen. Und es ist fraglich, ob dies je beantwortet wird. Immerhin halten es Fachleute für unwahrscheinlich, dass etwa alte DNA unter warmen Bedingungen wie in Äthiopien so viel Zeit überdauert. Womöglich liefern aber künftige Analysen der widerstandsfähigeren Proteine neue Einblicke.

Johanson, ein alter Mann mit weißen Haaren, stützt sich in der kargen Landschaft auf einen Gedenkstein.
50 Jahre später: Heute steht dort, wo Don Johanson Lucy fand, ein Gedenkstein. Der Anthropologe hält es für wahrscheinlich, dass sich die Gattung Homo aus dem Australopithecus afarensis heraus entwickelte.
Jack Daulton

Mit der Zeit ist der Wissensstand zur Evolution der Menschenaffen komplexer geworden. Einst hatte man von der jetzigen Situation auf der Erde darauf geschlossen, dass es nie mehrere menschliche Spezies oder Typen gleichzeitig gab. Dies hat sich geändert. Als vor zwei Millionen Jahren längst der Homo habilis existierte, wandelten noch sehr robuste Primaten wie Paranthropus boisei und andere Hominiden über den Kontinent. Und vor rund 60.000 Jahren gab es neben dem modernen Menschen, Neandertalern und Denisova-Menschen etwa den Homo floresiensis, den kleinen "Hobbit".

Weitere Annahmen wurden ebenfalls entkräftet, wie die kanadische Anthropologin Tracy Kivell vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig unterstrich: Es war nicht nur die Gattung Homo, die Werkzeuge nutzte. Das demonstrierte prominent die Primatenforscherin Jane Goodall. Sie beobachtete Schimpansen dabei, wie sie mit Stöckchen nach schmackhaften Termiten angelten. Nicht einmal auf Steinwerkzeuge trifft die Regel zu: Makaken knacken Nüsse mit Steinen. Dabei entstehen sogar Steinsplitter, die frühen Artefakten ähneln, die Menschen zugeordnet wurden.

Das Rätsel der Bäume

Für Lucy dürfte dies jedenfalls auch kein Problem gewesen sein. Und eine weitere populäre Annahme schickten Fachleute in die Wüste, nämlich die Savannenhypothese. Diese besagt, dass unsere Urahnen von Wäldern in baumarme Graslandsavannen zogen. Im hohen Gras sei es von Vorteil gewesen, Raubtiere aus der Ferne zu erkennen, weshalb sich der aufrechte Gang entwickelte. Lucy, ihre Artgenossen und deren Vorfahren lebten aber keineswegs in einer Steppenlandschaft, sondern hatten viel Wald um sich, wie die Anthropologin Kaye Reed in ihrem Vortrag deutlich machte.

Steinige Landschaft in der äthiopischen Afar-Region aus Vogelperspektive
So sieht die Landschaft aus, in der Lucy aus dem Erdboden geholt wurde. Vor Millionen Jahren war es hier aber wesentlich grüner, wie Fossilien von Tieren und Pflanzen zeigten.
Institute of Human Origins, Arizona State University

Auf Lucys Verhalten zu schließen ist basierend auf Fossilien aber schwierig. War sie wirklich hauptsächlich auf zwei Beinen unterwegs? Oder auch in Bäumen? Allein die Kletterfähigkeit laut Körperbau bedeutet nicht, dass sie sich wirklich auf Bäume hangelte. Es wäre aber wohl nützlich gewesen, die Nächte dort oben zu verbringen, geschützt vor Raubtieren.

Einen Hinweis darauf, dass sie Zeit in Bäumen verbrachte, wollte eine Forschungsgruppe vor acht Jahren gefunden haben. Sie vermutete, dass Lucy im Alter von etwa 25 Jahren von einem Baum fiel und dabei starb. Das folgerten die Fachleute aus Lucys Knochenbrüchen. Andere Expertinnen und Experten, die in der Afar-Region forschten, entgegneten, dass derartige Brüche auch bei Spezies wie Nashörnern und Elefanten vorkommen – Arten, die wohl kaum aus Bäumen stürzten.

Taylor Swift oder Joni Mitchell?

Die Knochen könnten erst nach dem Tod durch Veränderungen in der Erde gebrochen sein. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass sich ihre Überreste so gut erhalten haben und offenbar kaum von Fleischfressern auseinandergenommen wurden, sagte die US-Paläobiologin Anna Behrensmeyer. Sie befasst sich mit den Vorgängen, die nach dem Tod eines Organismus geschehen – und damit auch mit Versteinerungen.

Knochen auf rostrotem Hintergrund. Große Teile des Skeletts sind erhalten, etwa Beckenknochen, Ober- und Unterschenkel sowie Ober- und Unterarmknochen, Wirbel, Rippen, Unterkiefer und kleinere Teile des Schädels. Von den Fuß- und Handknochen ist wenig übriggeblieben.
Diese versteinerten Knochen sind von Lucy – offizielle Bezeichnung: AL 288 – erhalten. Ob die Brüche vor, während oder nach ihrem Tod entstanden sind, wird unter Fachleuten diskutiert.
Institute of Human Origins, Arizona State University

Was man über Lucys Fundumgebung weiß: In den Sedimenten über ihrem Skelett fanden sich Reste von Wasserlebewesen. Die Nähe zu Wasser liegt also nahe. Zudem wurden die Knochen wohl relativ schnell von Sedimenten bedeckt, die kaum in Bewegung waren, also eher im Uferschlamm eines Teichs als in einem Fluss. "Das gehörte zu Lucys Glück", sagt Behrensmeyer – oder dem Glück der Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die sie drei Millionen Jahre später erforschen können. Die Todesursache lässt sich kaum klären. Aber womöglich machte sich währenddessen oder danach ein Tier an ihren Händen und Füßen zu schaffen, denn hier fehlt ein Großteil der Knochen.

Nicht einmal die Tatsache, dass ein Großteil von Lucys Schädel fehlt, hinderte sie daran, eine Ikone der Anthropologie zu werden. Ähnlich ikonisch wie die Beatles für die Musik. Wissenschaftsjournalistin Ann Gibbons, deren Artikel Lucy zum 50. "Geburtstag" auf das Cover des "Science"-Magazins brachte, hält den Sensationsfund noch immer für eine bedeutsame Influencerin mit Wiedererkennungswert. Vielleicht sogar die zeitgereiste Taylor Swift des Pliozäns? Gibbons tendiert eher zum Vergleich mit Joni Mitchell: "Sie ist ein Oldie. Aber ein guter." (Julia Sica, 14.4.2024)

Titelbild des Fachjournals
Seit ihrer Entdeckung vor 50 Jahren haben wir uns viele Bilder von Lucy gemacht. Eines davon prangt auf dem aktuellen Cover des renommierten Fachmagazins "Science". Wie sie tatsächlich aussah, können diese Weichteilrekonstruktionen aber nicht verraten, weil nur Knochen von ihr übrig sind.
Science 2024; Rekonstruktion und Foto: John Gurche